Wenn das Schlachten vorbei ist
anziehen, und dort drinnen musste es etwas geben, mit dem sie sich bedecken konnte, irgendwelche Lumpen, ein Laken, ein altes Handtuch, den Pullover eines Fischers. Aber was, wenn dort Leute waren? Was, wenn dort ein Mann war? Kein Mann außer Till und dem Arzt, der bei ihrer Geburt geholfen hatte, hatte sie je nackt gesehen, und was sollte sie zu Till sagen, wenn ein anderer Mann sie in diesem Zustand sah? Sie zögerte, wusste nicht, was sie tun sollte. Lange betrachtete sie die Tür in ihrer sturen Unbelebtheit, eine Tür aus verwitterten, nichtssagenden Brettern, zusammengehalten durch Quersprossen. Daneben befand sich auf Augenhöhe ein in vier Rechtecke unterteiltes Fenster, so verschmiert, dass es fast undurchsichtig wie Milchglas war, aber sie trat trotzdem davor, legte die gewölbten Hände daran und spähte hinein, und dabei hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, beobachtet zu werden.
Sie konnte eine roh gezimmerte Küchentheke erkennen, auf der eine Pfanne und ein Sortiment anscheinend leerer Flaschen standen, dahinter war ein durchhängendes Bett mit einer Armeedecke. Durch ein zweites, nach Norden gehendes Fenster fiel das Gleißen des Meeres. Sie pochte leise an das Glas und hoffte, damit jemandem, der sich vielleicht dort drinnen aufhielt, zuvorzukommen. Schließlich klopfte sie an die Tür und flüsterte: »Hallo? Jemand zu Hause?«
Keine Antwort. Sie drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Ein Rascheln, etwas bewegte sich, dunkle Schatten in den Ecken, auf dem Boden ein zerfleddertes Buch, Regale, Konservendosen, an einem Haken ein Südwester, bei dessen Anblick sie zusammenfuhr, weil sie dachte, dort stehe jemand. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten und die Schatten sich als das offenbarten, was sie waren – pelzig, flink, die Schwänze nackt und träge zuckend, eine Vielzahl dunkel schimmernder Augen, die sie ohne Furcht oder Eile musterten, denn hier war sie der Eindringling, der Bettler, sie war diejenige, die nackt war, angeschwemmt wie irgendein Treibgut –, und sie stieß einen leisen Schrei aus. Ratten. Sie hatte Ratten schon immer gehasst, schon als sie im Kindergarten gewesen war und ihre Mutter ihr verboten hatte, in die Nähe der Mülltonnen zu gehen, die in der Gasse hinter ihrem Mietshaus standen. »Sie beißen kleine Kinder«, hatte ihre Mutter gesagt. »Und große Mädchen auch. Sie beißen sie in die Zehen und krallen sich in ihr Haar. Du kennst doch Janey, oben in 7B? Als sie ein Baby war, sind Ratten in ihre Wiege geklettert. Hier, in diesem Haus.« Ihr Vater hatte die Ermahnung noch verstärkt, indem er sie an die Hand genommen und mit dem Schuh in der dunklen Ecke der Garage herumgestochert hatte, so dass sie die Tiere sehen konnte, die in die mit Erdnussbutter bestückten Schlagfallen gegangen waren. Heimlich, im Dunkeln, kamen sie und leckten oder kratzten an dem Köder aus Erdnussbutter, derselben Erdnussbutter, die sie auf entrindetem Weißbrot aß, bis die Falle zuschnappte und Blut aus den zerschmetterten Köpfen und zerquetschten Mäulern rann. Ratten. Krankheitsüberträger, Nahrungsmittelverderber, Babybeißer. Aber wie kamen sie auf diese ungezähmte Insel mitten im Meer? Waren sie geschwommen? Hatten sie Flügel bekommen?
Der Gedanke kam und ging. Sie schwenkte die Arme. »Raus!« schrie sie, stampfte auf, wirbelte herum und klatschte in die Hände. »Raus!« Sie blinzelten sie an – es mussten ein Dutzend oder mehr sein –, und dann krochen sie ganz langsam in ihre Löcher, als wäre es eine Zumutung, der sie nur nachgaben, weil das Wollen dieser Frau im Augenblick größer war als das ihre. Beverly dagegen war in hektischer Bewegung. Sie riss die Decke vom Bett, ohne sich um das Rasseln des Rattenkots zu kümmern, der wie Schrotkugeln auf den Boden fiel, wickelte sich hinein und stürzte sich auf die Konservendosen, die auf dem Regal standen – Pfirsiche, Bohnen, Mais –, und die Küchenutensilien in der angeschlagenen Emaillepfanne auf der Theke.
Sie aß im Stehen. Erst die Pfirsiche, und der herrliche dickflüssige Saft war besser als alles, was sie je gegessen hatte – Sirup, den sie vom Löffel und von allen zehn Fingern leckte –, dann den Mais, dessen Süße sie aus der Dose löffelte, und schließlich eine Dose Thunfisch, weil es ihr gefiel, wie er sich zwischen ihren Zähnen anfühlte. Erst als sie satt war, sah sie sich genauer um. Die leeren Dosen, Beweise ihres Verbrechens –
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