Wenn der Golem erwacht
Internetanschluss, noch nicht mal einen Computer. Entweder ist Sallmanns Schwester sehr rückständig oder unglaublich progressiv.«
»Kranz wird misstrauisch sein. Vielleicht konntest du ihm vorspiegeln, die Redaktion den ganzen Tag über nicht verlassen zu haben. Aber er lässt garantiert deine Wohnung überwachen. Und wenn du heute Nacht nicht nach Hause kommst, wird er sich seinen Teil denken.«
»Soll er! Trotzdem weiß er nicht, wo ich bin.« Mit einem gekünstelten Augenaufschlag fragte sie: »Oder möchtest du, dass ich jetzt zu meiner Wohnung fahre, um Kranz das brave Mädchen vorzuspielen?«
»Auf gar keinen Fall!« Ich nahm Rica in die Arme. »Nachts ist es auf der Straße für brave Mädchen viel zu gefährlich.«
17
M otorengeräusch und das Klappen von Autotüren schreckte mich auf. Ein schneller Blick auf die Wanduhr zeigte mir, dass es erst zwanzig vor zehn war. Der Vormittag zog sich endlos dahin. Mehr aus Routine als aus einer konkreten Befürchtung griff ich im Aufstehen nach der PSM und trat ans Fenster.
Die Sonne schien durch eine zerrissene Wolkendecke, und der Regen der letzten Nacht verdampfte in kleinen Pfützen. Der Lieferwagen einer Reinigungsfirma stand auf der Straße, und eine Frau im roten Overall zog ein Päckchen aus der offenen Hecktür. Sie ging damit zu einem Haus auf der anderen Straßenseite.
Am Straßenrand parkte Sylvia Sallmanns grüner Opel Agila. Als Rica heute Morgen um acht aufgebrochen war, hatte sie die U-Bahn genommen. Höchstwahrscheinlich ließ Kranz das Redaktionsgebäude des ›Bärliners‹ überwachen. Wenn seine Leute Rica in dem Agila sahen, würden sie keine zehn Minuten später wissen, wo ich zu finden war. Rica hatte mir den Schlüssel und die Papiere für den Wagen dagelassen, für den Notfall. Ansonsten hatte ich nichts anderes zu tun, als hier auf ihre Rückkehr zu warten.
Die Frau im roten Overall hatte ihr Päckchen abgegeben und stieg wieder in den Lieferwagen. Sie wendete das Fahrzeug umständlich, bog auf die Friedrichstraße ein und fuhr zur ehemaligen Grenze. Dort stauten sich Autos und Touristen. Ein doppelstöckiger Reisebus mit getönten Scheiben hielt vor dem Mauermuseum, dem ›Haus am Checkpoint Charlie‹. Vorwiegend ältere Leute, Männer mit Baseballkappen und Frauen in unechtem Blond, Amerikaner, strömten heraus, zückten die Kameras und überfluteten die Verkaufsstände, die alle die gleichen Bücher, Broschüren, Faltkarten und ›garantiert echten Mauerstücke‹ feilboten. Gegenüber drängte ein Pulk junger Frauen auf Plateausohlen in den verzierten Altbau mit dem Café Adler. Ein ganz normaler Morgen in Berlin.
Ein nervender Singsang erfüllte den Raum, einmal, zweimal, dreimal. Mein Blick fiel auf das türkisfarbene Telefon mit integriertem Anrufbeantworter. Rica und ich waren übereingekommen, nicht miteinander zu telefonieren. Aus Sicherheitsgründen.
Nach dem fünften Klingeln sprang mit einem Klicken der Anrufbeantworter an, und eine überdrehte Frauenstimme sagte: »Hi, hier ist Sylvia! Ich bin nicht da, aber lass dich nicht abhalten, und sprich mir was Schönes auf Band!«
Ein Uwe meldete sich mit zögernder Stimme. »Bist du etwa schon in Urlaub, Sylvi? Du wolltest dich doch vorher bei mir melden. Ruf doch an, falls du nicht weg bist! Ja?« Er legte auf, und der Anrufbeantworter stellte das Band ab.
Ich ging in die Küche und schenkte mir den Rest Kaffee ein, den ich vor einer Stunde durch die Maschine hatte laufen lassen. Milch gab es nicht, Sylvia Sallmann hatte ihren Kühlschrank ziemlich geplündert. Ich mochte den Kaffee lieber mit ein wenig Milch und fragte mich, wie lange das schon so war.
Mit dem Kaffeebecher kehrte ich in den Wohnraum zurück und machte mich wieder über die Aktenkopie her, deren Blätter ich über den ganzen Esstisch verteilt hatte. Es war das einzig Sinnvolle, was ich tun konnte.
Operation Golem.
Jetzt, im hellen Tageslicht betrachtet, wirkte es wie blanker Unsinn, wie die Ausgeburt eines überdrehten Romanautors. Menschen, die zu Killermaschinen gemacht wurden, eine Armee von skrupellosen Kampfrobotern!
Aber dann erinnerte ich mich an den Film, den Hugo Bartsch uns gezeigt hatte, Projekt Balmung. Das hatte echt gewirkt, nicht wie eine Spinnerei aus Hollywood. War den Nazis nicht jeder Irrsinn zuzutrauen? Ich dachte an die fürchterlichen Experimente an KZ-Häftlingen. War es nicht möglich, dass Himmler und Konsorten in ihrer verbrecherischen Verblendung auch an den eigenen
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