Wenn der Golem erwacht

SS-Leuten experimentiert hatten? Die biologische Auslese mit den Mitteln der Wissenschaft beschleunigen, genau das passte zu der verschrobenen Vorgehensweise der Nazis, die Realitätssinn und Menschlichkeit aus ihrer Gedanken- und Gefühlswelt verbannt hatten.
    Wieder ertönte die mechanische Melodie des Telefons, gefolgt von Sylvia Sallmanns Ansage. Diesmal klackte es nur, und der Anrufer hatte aufgelegt. Uwe?
    Ich nahm den abgerissenen Faden wieder auf. Konnte aus dem Projekt Balmung die Operation Golem geworden sein, wie die kopierten Aktenblätter vor mir suggerierten? Zwar hatte es zum Credo der DDR gehört, nicht Erbin oder Nachfolgerin des faschistischen, kriegerischen Deutschlands zu sein, aber die Realität hatte anders ausgesehen. Stasi und Gestapo hatten mehr als drei Buchstaben gemeinsam gehabt, und die Soldaten der Nationalen Volksarmee waren munter im schon von der Wehrmacht abgeschafften Stechschritt marschiert. Bei all den Schweinereien, die das Ministerium für Staatsicherheit auf dem Gewissen hatte, erschien mir eine Fortführung des alten SS-Projekts nicht als abwegig.
    Bedeutsamer war die Frage, ob sich nach dem Ende des Arbeiter- und Bauernstaats jemand gefunden hatte, der das Projekt fortsetzte. Ich schien der lebende Beweis dafür zu sein. Vergebens dachte ich darüber nach, wer dahinter stecken mochte. Und wozu man jetzt, ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und ein Jahrzehnt nach dem des Kalten Kriegs, eine ›Armee von unbesiegbaren Kämpfern‹ brauchte, wie es in dem SS-Film geheißen hatte.
    Meine Gedanken drehten sich im Kreis, und zur Ablenkung schaltete ich den Fernseher ein. Eine Luftaufnahme des östlichen Tiergartens wurde von dem größeren Bild eines Gebäudes kurz vor der Fertigstellung abgelöst. Das Clay-Center. Ich erinnerte mich an das nächtliche Zusammentreffen mit Max und fragte mich unwillkürlich, wie es ihr gehen mochte.
    Ein neues Bild zeigte einen schnurrbärtigen Mann im roten Sakko und schwarzen Rollkragenpullover, der vor dem Clay-Center stand. Eine Schrift wurde eingeblendet: ›Henning Larisch – Sprecher der Trägergesellschaft‹.
    Ein Interviewer fragte: »Herr Larisch, das neue Clay-Center steht kurz vor seiner Vollendung. Reichlich ungewöhnlich für Berlin, dass ein Bauprojekt nicht nur innerhalb des festgesetzten Zeitrahmens fertig wird, sondern sich auch im Kostenrahmen hält. Oder?«
    Larisch warf sich in die Brust und strahlte. »Sehr ungewöhnlich, ja! Die am Clay-Center beteiligten Unternehmen, insbesondere Global Standards als Hauptträger, haben durch realistische Planung und ständige Kontrolle dazu beigetragen, das Bauprojekt so glatt durchzuziehen.«
    Der Interviewer kam seitlich ins Bild, ein bebrillter Mittdreißiger mit schütterem krausen Haar. »Sie erwähnten gerade Global Standards, den Hauptinvestor und auch hauptsächlichen Nutznießer des Clay-Centers. Sie, Herr Larisch, arbeiten eigentlich als Pressesprecher für Global Standards und wurden für die Zeit des Bauprojekts zur Trägergesellschaft abgestellt.«
    »Das ist richtig.«
    »Täuscht der Eindruck, dass die Beteiligung anderer Firmen sowie der Bundesregierung und des Berliner Senats am Clay-Center davon ablenken soll, dass es sich eigentlich um eine Revanche gegenüber INTEC handelt? Ursprünglich hatte Global Standards am Potsdamer Platz bauen wollen, wo jetzt der INTEC-Tower steht.«
    Eine steile Falte über Larischs Nasenwurzel kündete von seinem Missmut, aber er zwang sich zu einem Lächeln. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Nachdem Global Standards den Zuschlag für den Potsdamer Platz nicht bekommen hat, haben wir uns mit ganzer Kraft auf diesen Standort am Rand des Tiergartens konzentriert und einen Gebäudekomplex entworfen, der sich im Übrigen viel harmonischer ins Stadtbild einfügt als der INTEC-Tower. Dass die anderen Bauträger keine bloße Alibi-Funktion erfüllen, können Sie allein daraus ersehen, dass Bundeskanler Zander am dritten Oktober, dem Tag der deutschen Einheit, die Einweihungsrede halten wird.«
    »Aber Global Standards ist doch sehr daran gelegen, ein gutes Einvernehmen mit der Bundesregierung herzustellen. Gerade dieser Tage, wo im Kabinett über das Gesetz zur Neuordnung der neurotechnologischen Forschung beraten wird. Global Standards ist neben INTEC einer der führenden Konzerne auf diesem Sektor. Und der Bundeskanzler hat bekanntlich tief greifende Bedenken gegen eine zu liberale Formulierung des Gesetzes