Wenn der Golem erwacht
Versuch gelöscht worden. So wie man eine Diskette oder eine Festplatte löscht.«
Bei dem Gedanken, dass ein Fremder über mein Gehirn verfügt hatte wie über eine normale Datei, wurde mir übel. Gleichzeitig befiel mich eine rasende Wut. Ich hätte schreien mögen, aber ich wusste, dass es nutzlos war. Als ich mich wieder hinsetzte, war jeder Appetit verflogen.
Rica holte einige Blätter Küchentuchpapier, um die Suppe vom Boden zu wischen, so gut es ging. Als sie damit fertig war, legte sie das schmutzige Papier achtlos auf den Tisch und sah mich an.
»Du hast Recht!« sagte sie. »Projekt Balmung mag damals ebenso verrückt wie undurchführbar gewesen sein. Aber mit der Entwicklung der Computertechnologie wurde es, als Operation Golem, immer realistischer. Deshalb hat man in der DDR die Sache gefördert. Und deshalb fördert man sie immer noch. Es passt zu dem, was ich herausgefunden habe.«
»Was?«
Sie setzte sich auf meinen Schoß und fuhr mit der Hand durch mein Haar. Ihre Berührungen wirkten beruhigend auf mich, gaben mir unerklärlicherweise ein Gefühl von Sicherheit. Vielleicht nur deshalb, weil ich aufgrund von Ricas Hilfe nicht ganz allein stand. Vielleicht aber auch, weil ich längst mehr für sie empfand, als ich mir selbst zugestehen wollte.
»Dein Dr. Ambeus scheint ein Phantom zu sein, aber Professor Baumes hat sich als Treffer erwiesen. Anfang der achtziger Jahre war er in einen Skandal verwickelt. Damals leitete er eine Privatklinik für Neurochirurgie in Zehlendorf.«
»In West-Berlin?« warf ich überrascht ein.
»Ja, damals lebte er noch im Westen. Ihm wurde vorgeworfen, über das medizinisch erforderliche und das ethisch zulässige Maß hinaus an seinen Patienten herumexperimentiert zu haben. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein. Noch bevor die Anklage erhoben wurde, verschwand er von der Bildfläche.«
»Und tauchte im Osten wieder auf?«
»Nicht so ganz. Das Gutachten in Hugos Akte legt nahe, dass er in der DDR Unterschlupf gefunden hat. Meine Recherche scheint es zu bestätigen. Offiziell gibt es weder Hinweise auf einen Professor Rudolf Baumes noch auf einen Dr. Ambeus. Aber ich habe eine Aktennotiz aus dem Stasi-Erbe ausfindig gemacht. Und zwar hatte das MfS einen geheimen Geld topf zur ›Unterstützung von staatlich wichtigen wissenschaftlichen Forschungen‹, wie der Etat genannt wurde. Und da gibt es einen Vermerk von 1984 über die Zuwendung von 1,2 Millionen Mark für die Klinik Baumes, ehemals Gut Auenheim. Weißt du, wo das liegt?«
»Nein«, antwortete ich, aber mich beschlich eine Vorahnung.
»Heute gibt es keinen Ort dieses Namens mehr. Er wurde im Zweiten Weltkrieg ausradiert. Aber auf einer Vorkriegslandkarte habe ich ein kleines Dorf namens Auenheim gefunden, in der Uckermark, südlich von Wolfshagen.«
18
W ie ein Maulwurf durchs Erdreich fraß sich der Opel Agila durch die unbekannte Schwärze. Rica fuhr mit einer Geschwindigkeit zwischen fünfzig und sechzig Stundenkilometern. Trotzdem musste sie höllisch aufpassen, um den Wagen auf der Straße zu halten. Der Wolkenbruch, der kein Ende nehmen wollte, überspülte mit seinen Wassermassen den löchrigen Asphalt, und starker Seitenwind rüttelte immer wieder an dem Mini-Van. Jede kleine Kurve brachte ihn in die Gefahr heftigen Schlingerns. Und die schmale Landstraße hatte eine Menge Kurven, kleine und große. Oft waren sie erst im letzten Moment zu sehen.
Die dicken Wolken am Abendhimmel, der fast undurchdringliche Regenvorhang und die dichten Baumreihen links und rechts verschluckten das Scheinwerferlicht. Zusätzlich erschwert wurde die Sicht durch den Wasserschleier auf der Windschutzscheibe. So schnell die unermüdlichen Wischerblätter auch hin und her zuckten, gegen diese Sintflut kamen sie nicht an. Das Klacken der Wischer und das Brummen des Motors wurden von dem Prasseln der dicken Tropfen auf die Karosserie und dem Rauschen des von den Rädern verdrängten Wassers übertönt.
»Ich kann mir denken, warum dieses Auenheim auf kaum einer Karte verzeichnet ist«, sagte irgendwann Rica, deren Augen am dunklen Band der Straße klebten. »Wer fährt schon freiwillig zum Arsch der Welt?«
»Wir«, erwiderte ich und hielt weiterhin angestrengt Ausschau nach einem Hinweisschild oder einer Abbiegung.
Auf meinen Knien lag eine Straßenkarte, auf der ich mit Kugelschreiber die ungefähre Lage von Gut Auenheim markiert hatte. Geholfen hatte uns dabei die alte Karte von
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