Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
Vom Netzwerk:
jetzt umzukehren.«
    »In Wolfshagen findest du bestimmt ein Zimmer. Ich könnte dann allein nach Auenheim …«
    »Ende der Diskussion!«, sagte sie scharf und sah auf die Uhr am Armaturenbrett. »Ich will nicht unromantisch sein, aber es ist schon nach neun. Wir sollten weiterfahren.«
    Zwanzig Minuten und zwei Abzweigungen später fuhren wir über eine breitere Straße. Der Baumbestand war weniger dicht. Nach meiner Karte waren wir auf dem richtigen Weg. Eine scharfe Biegung und vor uns tauchte der schemenhafte Umriss eines großen Gebäudes auf.
    Auch Rica hatte es gesehen. Sie hielt den Wagen an und stellte die Scheinwerfer aus.
    »Ist das die Klinik?«
    Ich versuchte, das Gebäude jenseits der Regenschleier besser zu erkennen. Noch immer mühten sich die Scheibenwischer, aber trotzdem war es, als blickte man durch ein mit Wasser gefülltes Glas. Der mehrere Stockwerke hohe Kasten lag vor uns wie ein dunkler Klotz, scheinbar unbelebt.
    »Es könnte das Haus sein«, sagte ich zögernd. »Aber es ist nicht die Seite, auf der ich es verlassen habe. Dies hier müsste die Rückseite sein.«
    »Dann sehen wir es uns mal aus der Nähe an!«
    Ohne die Scheinwerfer wieder einzuschalten, steuerte Rica den Opel langsam in eine Lücke zwischen zwei knorrigen Buchen. Der Wagen kam nur ein paar Meter von der Straße entfernt zum Stehen, aber bei den herrschenden Sichtverhältnissen war es keine schlechte Tarnung.
    Wir zogen die Gummistiefel und die wasserdichten Miporex-Jacken an, die wir in Prenzlau gekauft hatten. Ich überprüfte die PSM und steckte sie in eine Jackentasche an der rechten Seite, die ich durch Aufreißen eines Druckknopfes schnell öffnen konnte. Die Ersatzmagazine verstaute ich auf der anderen Jackenseite. Die Werkzeuge, ebenfalls in Prenzlau erstanden, hatte ich schon dort in einigen der vielen Jackentaschen deponiert. Jetzt kam ich mir vor wie ein wandelnder Reparaturdienst.
    Ich griff nach meiner Taschenlampe und sah, dass Rica eine zweite, identische Lampe aus einer der Schubladen unter den Vordersitzen holte. Anschließend drehte sie sich nach hinten, wo die wasserfeste Umhängetasche mit ihrer Fotoausrüstung stand.
    Als wir ausstiegen, waren unsere Köpfe und Hosen, soweit sie nicht von den wasserfesten Jacken bedeckt wurden, binnen Sekunden durchnässt. Der Waldboden war aufgeweicht, halber Matsch, und saugte schmatzend an den Profilsohlen unserer Gummistiefel.
    Im Schutz des Unterholzes arbeiteten wir uns auf das Gebäude zu. Noch immer war dort kein Zeichen von möglichen Bewohnern zu entdecken. Kein Licht brannte, weder draußen noch jenseits der Fenster. Ich war mir jetzt sicher, dass es die ›Klinik‹ war. Der Innenhof, über den ich geflohen war, musste auf der entgegengesetzten Seite liegen.
    Die Beklemmung wollte wieder von mir Besitz ergreifen. Dies war vielleicht der Ort, an dem man mein Gehirn manipuliert hatte, an dem mir meine Erinnerung geraubt worden war. Doch es war nicht sicher, dass ich das Verlorene hier wieder fand. Konnte es nicht auch sein, dass ich das Wenige, was ich seit meiner Flucht gefunden hatte – Rica und meine Gefühle für sie – in der Klinik verlor?
    Der Wald endete ungefähr fünfzig Meter vor dem Gebäude. Von hier aus bemerkten wir einen Gitterzaun, wie es ihn auch auf der anderen Seite gab. Dreißig Meter vor uns zog er sich um das Haus, so weit wir blicken konnten. Einen Durchgang gab es auf dieser Seite nicht.
    »Versuchen wir es vorn«, schlug ich vor und musste halblaut rufen, um die Kakophonie des prasselnden und klatschenden Regens zu übertönen.
    Als wir unseren Weg fortsetzten, sah ich, dass die Fenster und Türen auch hier größtenteils vernagelt oder zugehängt waren. Eigentlich hätte man einen Dachscheinwerfer erkennen müssen, aber das war nicht der Fall.
    Ich machte Rica darauf aufmerksam, und sie erwiderte: »Die Vögel sind wahrscheinlich ausgeflogen. Nach deiner Flucht dürfte es ihnen hier zu heiß geworden sein.«
    »Mag sein«, sagte ich nachdenklich, denn ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte.
    Dann standen wir vor der U-förmigen Gebäudeseite und dem Innenhof, und ich durchlebte die Hektik meiner Flucht noch einmal. Fast glaubte ich, jenseits des Gitterzauns den von mir niedergeschossenen Torwächter liegen zu sehen. Aber das war nur ein Trugbild, hervorgerufen von einem abgebrochenen Ast der großen Eiche, der sich im heftigen Wind bewegte.
    »Das Haus sieht auch von hier aus so verlassen aus wie ein Amtsgebäude

Weitere Kostenlose Bücher