Wenn der Golem erwacht
1937, die Rica am Nachmittag mitgebracht hatte. Die aktuelle Straßenkarte hatten wir in Prenzlau erstanden, wo wir den Wagen aufgetankt und einige Einkäufe getätigt hatten, um uns für unsere Expedition angemessen auszurüsten. Wir waren auf der A 11 bis zur Abfahrt Prenzlau gefahren, hatten dann die B 198 genommen und waren in Wolfshagen nach Süden abgebogen. Je länger wir unterwegs waren, desto schlechter wurde das Wetter.
»Da!« rief ich aus, als zur Linken eine Lücke im Baumbestand auftauchte und auch schon wieder im Dunkel versank. »Das hätte unsere Abzweigung sein können. Vorausgesetzt, es war überhaupt ein befahrbarer Weg.«
Rica bremste vorsichtig ab und setzte zurück, bis der Agila neben der Lücke stand. Ich leuchtete mit der Halogentaschenlampe, die ich zum Lesen der Karte benutzt hatte, an Rica vorbei durchs Fahr er fens ter. Es war tatsächlich eine Einfahrt, gerade breit genug für einen Wagen. Der Asphaltbelag sah noch älter aus als der, über den wir bisher gefahren waren. Ein Hinweisschild suchte ich vergebens.
»Und?« fragte Rica. »Hier rein oder weiter geradeaus?«
Anhand der Entfernungsskala auf der Straßenkarte und der Anzeige des Kilometerzählers überprüfte ich unseren Standort. »Es könnte die richtige Abzweigung sein.«
»Was heißt könnte?«
»Es kommt von der Entfernung ungefähr hin. Aber wer garantiert uns, dass nicht in ein paar hundert Metern noch eine Abzweigung kommt, die Richtige?«
»Niemand«, sagte Rica knapp. »Also?«
»Versuchen wir's!«, entschied ich.
Rica setzte ein paar Meter zurück und bog dann nach links ein. Die alten, hohen Bäume standen hier so eng zusammen, dass sich ihre Kronen berührten. Es war wie eine Fahrt durch einen düsteren Tunnel.
Trotzdem schlug der Regen mit voller Wucht zu uns durch. Äste wurden abgerissen und fielen dumpf krachend gegen den Wagen. Andere knirschten unter den Autorädern. Rica reduzierte die Geschwindigkeit auf vierzig, dann auf dreißig Stundenkilometer.
Der unbekannte Weg führte in sanften Windungen durch den Wald. Ich wusste nicht, ob er uns dem Ziel näher brachte, wie lang er war, wo er endete. Und doch ahnte ich, dass wir uns dem Ort näherten, an dem für mich alles begonnen hatte – der ›Klinik‹.
Ein Gefühl der Beklemmung beschlich mich, drückte auf meine Brust. Ich griff zum Armaturenbrett, um die Frischluftzufuhr zu erhöhen, aber ich atmete noch immer schwer.
Vor uns verbreiterte sich der Weg ohne ersichtlichen Grund zu einer Art Wendeplatz. Vielleicht, damit sich begegnende Fahrzeuge einander ausweichen konnten. Rica hielt mitten auf dem Platz an und beugte sich zu mir. Ihre Hand tastete über meine schweißnasse Stirn.
»Was ist los?«, fragte sie besorgt.
»Ich denke an die Klinik und das, was uns möglicherweise dort erwartet.«
»Womit rechnest du?«
»Mit allem. Vielleicht finden wir dort nicht den geringsten Hin* weis. Vielleicht aber auch …«
Als ich den Satz nicht vollendete, fragte Rica: »Du denkst, es könnte gefährlich werden, nicht?«
»Die Möglichkeit besteht. Und deshalb wäre es besser, wenn ich allein dorthin fahren würde.«
»Das haben wir doch schon durchgekaut, bevor wir aufgebrochen sind«, sagte Rica leicht gequält. »Ich will eine gute Story haben, also muss ich auch vor Ort recherchieren. Gefahr …«
»Ist dein Geschäft, ich weiß«, fuhr ich dazwischen. »Aber ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Ich muss dir etwas sagen: Du bist für mich nicht die erste Frau.«
Einige Sekunden sah sie mich ungläubig an, dann fing sie lauthals an zu lachen und prustete: »Wie kommt es, dass mich deine Lebensbeichte in diesem Punkt nicht überrascht?«
»So meine ich das nicht. Ich rede von der kurzen Zeit, an die ich mich zurückerinnere.«
Ich erzählte ihr von Max und von den Gründen, weshalb ich das Theater in der Spandauer Vorstadt verlassen hatte.
Rica hörte aufmerksam zu und fragte dann: »Warum kriege ich das erst jetzt zu hören?«
»Wir kennen uns noch nicht so schrecklich lange. Ich wollte Max schützen. Und ich wusste nicht, ob ich dir vertrauen kann.«
»Was hat sich geändert?«
»Einiges. Ich vertraue dir. Und ich empfinde ähnlich für dich, wie ich für Max empfunden habe. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt!«
Unsere Lippen trafen sich, und nach einem langen Kuss sagte Rica: »Deine Gefühle in Ehren, aber wenn du ein Heimchen am Herd suchst, bin ich die Falsche. Außerdem habe ich nicht die weite Fahrt gemacht, um
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