Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
schon. Sie stammten von einem isolierten Clan ab, der für sich allein durch den europäischen Kontinent streifte. Dann entwickelten einige ihrer herrschenden Familien die Vorstellung, ihre Rasse wäre nicht nur reiner, sondern besäße auch größere körperliche Fähigkeiten als alle anderen, und sie wurden regelrecht fanatisch in dem Bemühen, durch Zucht die Reinheit ihrer Spezies zu gewährleisten. Bruder und Schwester, Eltern und Kinder paarten sich miteinander. Da sie so isoliert lebten, wurde ihr Verhalten vom Konsortium zunächst nicht bemerkt. Aber nach einigen Generationen wurde unübersehbar, dass diese Inzucht unvorhergesehene, gefährliche Folgen mit sich brachte. Anstatt die Reinheit ihrer Rasse zu erhalten, mutierten sie. Ihre ganze Biologie veränderte sich. Sie hatten sich zu unsterblichen Wesen mit unglaublicher Macht hochgezüchtet, aber diese Macht hatte ihren Preis. Sie wurden zu Sklaven ihres eigenen unstillbaren Hungers, entwickelten sich schließlich zu dem, was wir heute als die Casus kennen. Der Name bedeutet gewaltsamer Tod .“
„Eine treffende Bezeichnung“, flüsterte Molly und schlang die Arme um sich. Sie spürte eine innere Kälte, obwohl der Raum angenehm warm war.
„In der Tat“, stimmte Scott zu und bedachte sie mit einem Blick, der Ian überhaupt nicht gefiel. Am liebsten hätte er die Zähne gefletscht. Er zog an seiner Zigarette und lauschte weiter der Erklärung des Watchman. „Die Casus fingen an, als ihre Hauptnahrungsquelle Menschen zu jagen. Dabei entdeckten sie, dass sie sogar noch stärker wurden, wenn sie nicht nur das Blut ihrer Opfer tranken, sondern auch ihr Fleisch verzehrten. Sie kannten nur noch Tod und Zerstörung, wie die Schwarze Pest löschten sie alles aus, was ihren Weg kreuzte.“
Ian stieß bedächtig Rauch aus. „Meine Mutter redete oft davon, dass die Casus die Merrick gejagt hätten.“
„Und auch damit hatte sie recht. Bald lernten sie, dass ihr eigenes Vergnügen und ihr Zuwachs an Macht umso größer wurden, je stärker ihre Opfer waren. Die Merrick gehörten zu den stärksten der uralten Clans und wurden daher zu ihrer Lieblingsspeise, obwohl sie sich auch weiterhin von Menschen ernährten. Um sowohl die Menschheit als auch ihre eigene Spezies zu beschützen, erklärten die Merrick den Casus den Krieg, und zwar mit dem Segen des Konsortiums. Viele Jahre lang bekriegten sich die beiden Clans, bis schließlich mithilfe des Konsortiums ein Plan entstand, wie man die Casus dauerhaft wegsperren könnte.“
„Was zum Teufel ist denn eigentlich dieses Konsortium?“, fragte Ian, drückte die Zigarette aus und holte sofort die nächste aus der Schachtel. „Davon habe ich bis heute Abend noch nie im Leben etwas gehört.“
„Das Konsortium“, erklärte Scott, „ist eine Körperschaft aus Abgesandten von jedem einzelnen der ursprünglichen Clans, wie eine Art übernatürlicher UNO. Sein Sinn und Zweck besteht darin, Streitigkeiten unter den verschiedenartigen Spezies beizulegen, den Frieden zu erhalten und gleichzeitig die Existenz der Clans vor der Welt der Menschen geheim zu halten. Eigentlich ist es mittlerweile zu einer Bürokratie geworden, die wie alle großen Körperschaften dieser Art, ganz wie die UNO der Menschen, oft genug von politischen Manövern und persönlichen Ambitionen lahmgelegt wird. Aber nichtsdestoweniger ist das Konsortium schon eine große Hilfe, um Gespräche zwischen verschiedenen Gruppen von Wesen zu ermöglichen, die sich sonst aus dem Wege gehen würden. Die Watchmen wurden aus verschiedenen Clans von Gestaltwandlern zusammengestellt, um rund um die Welt eine Art Augen und Ohren für das Konsortium zu sein. Nun behalten wir also die verschiedenen Spezies, die heute noch existieren, wie die Merrick, im Auge und erstatten Berichte. Falls ein Eingreifen erforderlich sein sollte, stimmen die Mitglieder des Konsortiums über die entsprechende Vorgehensweise ab.“
„Also, nach jahrelangem Krieg ist dieses Konsortium endlich wach geworden und hat beschlossen, den Merrick gegen die Casus zu helfen.“ Ian trank einen Schluck Kaffee, aber er hätte viel lieber ein Bier gehabt. „Was hat sie denn dazu bewogen? Und was haben sie eigentlich gemacht?“
„Und wo und wie haben sie sie in die Falle gelockt?“, warf Molly ein.
„Das weiß niemand so genau“, antwortete Quinn trocken und löschte das Licht in der Küche, nur die Nische blieb erleuchtet. Er setzte sich jetzt ebenfalls, mit dem Rücken zum Fenster.
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