Wenn der Hunger erwacht (German Edition)
vergraben, sah wieder aus dem Fenster, in diese endlose Nacht, der See schwappte ans Ufer, als wolle er aus der schwarzen Dunkelheit krabbeln. „Ach, Molly“, krächzte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. „Du glaubst an jeden und alles.“
„Das stimmt nicht“, widersprach sie. Zorn stieg in ihr auf wie Lava in einem Vulkan, der jeden Augenblick ausbrechen konnte. „Ich habe schon lange aufgehört, an andere Leute zu glauben. Ich habe dir nicht alles erzählt, was damals passiert ist, als Sara starb.“
Ruckartig wendete er den Kopf zu ihr und starrte sie an.
„Ich ging mit ihrem älteren Bruder. Saras Stiefbruder. Er war mein erster Freund, die erste Liebe, der erste Kuss.“ Ihre Stimme war rau, die Worte taumelten ihr abgehackt und atemlos von den Lippen. „Mein erstes Sonstwas. Als Saras Geist dann zu mir sprach und mir von dem Richter erzählte, machte ich den Fehler, mich ihm anzuvertrauen. Er tat so, als mache er sich fürchterliche Sorgen um mich. Und er überredete mich dazu, den Mund zu halten, niemandem etwas zu erzählen. Er überzeugte mich davon, dass er Angst davor hätte, was die Leute alles tun könnten … dass sie vielleicht sogar versuchen könnten, mich für Saras Tod verantwortlich zu machen.“ Ein sprödes Lachen drang aus ihrer Kehle, sie schlang die Arme um ihren Körper. Sie schluckte schwer, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen und hasste die Scham, die diese Erinnerung jedes Mal in ihr weckte. Diese Scham würde sie niemals loswerden.
„Er hat sehr geschickt mit meinen Ängsten gespielt.“ Sie musste sich zwingen, die Geschichte endlich rauszulassen. „Und hinterher, nachdem alles herausgekommen und der Richter verhaftet worden war, da kam er an und nannte mich eine Missgeburt und eine blöde Kuh. Er sagte, er hätte die ganze Zeit gewusst, dass sein Vater Sara missbrauchte, aber das hätte er für sich behalten. Denn Sara hätte sich wie eine Schlampe aufgeführt und seinen Vater in Versuchung geführt, der schließlich auch nur ein Mann sei. Wahrscheinlich hat er Saras Mutter dafür verantwortlich gemacht, die Ehe seiner Eltern zerstört zu haben, und jetzt dachte er, ihre Tochter kriegt halt, was sie verdient.“
„Großer Gott.“
„Also ist ein Mädchen umgebracht worden, weil ich so leichtgläubig war“, flüsterte sie, die Abscheu vor sich selbst war nicht zu überhören. „Weil ich Angst hatte und dumm war und wochenlang die Klappe hielt, nur weil er das so wollte.“
„Und deshalb hast du letzte Nacht gesagt, dass du dich nicht mit Männern einlässt, die du auf diese Weise kennenlernst.“ Es war keine Frage. Er wusste, dass er recht hatte.
Sie nickte, schaute jetzt auch hinaus in die Nacht, der Mond war durch die Wipfel der Pinien am anderen Ufer des Sees kaum zu erkennen. „An dem Tag, an dem er mir die Wahrheit sagte, musste ich eine schreckliche Lektion lernen. Über Vertrauen. Und die habe ich nie wieder vergessen.“
Sie holte tief Luft und sah ihn wieder an. Jetzt kam ihr das Geständnis ganz leicht von den Lippen. „Jahrelang habe ich diesen Vertrauensbruch als Vorwand benutzt, mich abzukapseln, in meiner eigenen kleinen Welt zu leben, wo mir niemand wehtun konnte. Wo ich mich nicht auf irgendjemand zu verlassen brauchte, von keinem etwas erwartete. Wo es mir nichts ausmachen konnte, was andere Leute tun. Deswegen dachte ich, ich müsste gegen das ankämpfen, was zwischen uns ist. Aber das kann ich nicht mehr, Ian. Ich will es auch gar nicht mehr.“
Molly legte eine Hand auf seinen Arm und hoffte, er würde sich zu ihr umdrehen. Sie in die Arme nehmen. Sie festhalten. „Ich hatte seitdem natürlich Verabredungen mit Männern, aber es ist immer schwierig gewesen. Bei jemandem wie mir seid ihr Kerle nicht gerade verständnisvoll. Aber je mehr ich das alles in mir begraben wollte, desto schlimmer war es dann, wenn es schließlich herauskam. Bis ich am Ende aufgegeben habe. Deshalb habe ich so lange keine Beziehung mehr gehabt. Aber du kennst mein blödes kleines Geheimnis ja schon. Und trotzdem bist du noch da. Trotzdem willst du mich noch. Glaubst du nicht, dass das etwas bedeutet, Ian? Vielleicht passiert dies alles aus einem ganz bestimmten Grund? Das mit deiner Mutter? Den Träumen? Ich weiß auch nicht, wie ich das erklären soll, aber es ist wie …“
„Schicksal?“, schnaubte er.
Über seinen Tonfall musste sie wieder den Kopf schütteln. „Ich meine es ernst, Ian. Nenn es meinetwegen, wie du willst.
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