Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause

Lager der Physik und Chemie einen Kasten an der Wand, in dem besonders gefährliche Dinge gelagert wurden. Ich habe mich immer schon gefragt, warum man alle schädlichen Substanzen zusammen in einem Schrank aufbewahrte und damit die Gefahr noch erhöhte – aber wahrscheinlich war die Erklärung ganz einfach: Weil die Anschaffung mehrerer Schränke zu teuer gewesen wäre.
    Als wir im Physikunterricht dann den Aufbau eines Geigerzählers besprachen, wunderten wir uns über das andauernde Piepen dieses Geräts, das ja eigentlich atomare Strahlung messen sollte. Herr Nüth überprüfte die Einstellungen des Geigerzählers und bewegte ihn im Raum etwas hin und her, um festzustellen, ob das Piepen sich veränderte. Es blieb gleich. Er sagte: «Also entweder ist das Gerät kaputt, oder ich hab irgendwas in den Nachrichten verpasst.» Er holte den zweiten Geigerzähler, den die Schule besaß. Auch der piepte. Herr Nüth versuchte uns zu beruhigen: «Das ist die ganz normale kosmische Strahlung, auf die der Zähler reagiert.»
    «Für kosmische Strahlung piept es aber ganz schön stark», warf Fabio ein. Herr Nüth ignorierte diesen Einwand und wollte die Geigerzähler wieder wegbringen. Das Piepen wurde schneller. Herr Nüth blieb stehen, ging ein wenig vor und zurück, und wieder wurde das Piepen schneller. Er näherte sich dem Schrank mit den gefährlichen Substanzen. Der Geigerzähler konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Herr Nüth blieb locker und erklärte, das Gerät sei so eingestellt, dass die Strahlung selbst bei vollem Ausschlag des Messgerätes noch lange nicht im schädlichen Bereich liegen würde. Er las die Liste auf dem Wandschrank, die Auskunft über dessen Inhalt gab, öffnete die Schranktür und nahm ein kleines silbernes Kästchen heraus. Das brachte er zum Experimentierpult, öffnete es und fand darin ein Röhrchen mit einer kleinen Öffnung. Herr Nüth hielt den Geigerzähler an diese Öffnung und tatsächlich: Dies war die Quelle der Strahlung. Er verschloss die Box mit dem Röhrchen wieder und hielt den Geigerzähler daran. Es piepte unvermindert. Herr Nüth las vor, was auf der Box stand: Vorsicht: Strahlendes Material. Inhalt: Radium.
    Da diskutierten Menschen in ganz Deutschland über die Sicherheit von Atomkraftwerken oder Atommüllendlager und bei uns in der Schule lag ein kleines, aber munter vor sich hin strahlendes Stück Radium in einem Schrank in einer Box, die ihren Zweck, nämlich die Strahlung abzuschirmen, anscheinend überhaupt nicht erfüllte. Klar, es handelte sich um eine geringe Menge und auch nur um schwach strahlendes Material, das extra für Experimente in der Schule vorgesehen war – aber nichtsdestotrotz ließ uns der nicht gerade gewissenhafte Umgang damit erschauern. Wer jetzt allerdings denkt, das Radium wurde entfernt oder anders gesichert, der hat noch nie eine deutsche Schule besucht. Es geschah nämlich: nichts. Herr Nüth legte das Radium einfach wieder in den Wandschrank. Daneben hing ja gleich der Erste-Hilfe-Koffer – auf dem ein strahlender Smiley klebte.
    Die DDR lebt
    «Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Helmut Schmidt appellierte gestern in einer Ansprache erneut an den Staatschef der DDR , Erich Honecker, die Selbstschussanlagen an der deutsch-deutschen Grenze zu entfernen. Honecker lehnte dies ab, da ‹der Schutz der Grenze vor faschistisch-imperialistischen Eindringlingen strengste Priorität› hätte.» So lautete ein Zeitungsartikel, der in unserem Politikbuch unter der Rubrik «Aktuelles Weltgeschehen» abgedruckt war. Er stammte aus dem Frühjahr 1980 . Wir schrieben inzwischen das Jahr 2008 .
    Veraltete Bücher waren kein Einzelfall. Erst 2010 bekamen wir aktuelle Ausgaben in vielen Fächern bewilligt. Bis dahin lasen wir von der Existenz der Berliner Mauer, und der Kalte Krieg lief auf Hochtouren. Als diese Bücher gedruckt wurden, gab es die Partei der Grünen gerade mal ein halbes Jahr, und eine gewisse Angela Merkel träumte allenfalls davon, einmal Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland zu werden.
    Es spricht für unsere Demokratie, dass die Kapitel über das Grundgesetz und über die Funktionsweise der Wahlen im Großen und Ganzen noch Gültigkeit besaßen. Es spricht aber gegen unseren Bildungshaushalt, dass unser Politikbuch mindestens zehn Jahre älter war als wir selbst und ein Erdkundebuch aus dem Jahr 1992 prognostiziert, der Traum vom mobilen Telefonieren und die Verbreitung des sogenannten Internets müsse sich