Wenn der Tod mit süßen Armen dich umfängt
war sie viel zu abhängig von seiner Liebe und Wertschätzung.
War es zu viel verlangt, sich zu dieser Liebe auch Respekt zu wünschen?
Nachdem sie ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte und er um die halbe Welt hatte reisen müssen, um sie zu retten, wahrscheinlich schon.
Seufzend wandte sie sich vom Spiegel ab. Räumte ihren Rucksack auf und machte das Bett, dann glitt ihr Blick rastlos durchs Zimmer. Vielleicht funktionierte das Telefon ja wieder, dann konnte sie bei ihren Eltern anrufen. Na ja, eigentlich fühlte sie sich diesem Gespräch noch immer nicht gewachsen, aber sie sollte zumindest Linda und den anderen Bescheid geben, dass es ihr gut ging.
Die Tür führte auf einen breiten Gang mit hoher Decke, Zierleisten und handgeschnitzten Holzverzierungen. Am einen Ende des Flurs sah sie vornehme Türen mit Glaseinsätzen, auf dem Weg dahin gab es weitere Türen so wie die zu ihrem Zimmer, drei auf jeder Seite des Flurs. Das ganze Gebäude strahlte eine altehrwürdige Eleganz aus, die sie bei der abgelegenen Lage nicht erwartet hätte. Eine Frau saß auf einem Holzstuhl vor ihrem Zimmer und las eine Zeitschrift – Helda.
»Hallo«, sagte sie in fröhlichem Tonfall. Aber ohne zu lächeln. Stattdessen blickte sie auf die Uhr, als sei Maria unerfreulich früh zu einer Einladung aufgetaucht. Sie strich sich die bereits faltenfreie Uniform glatt und rollte die Zeitschrift zu einem festen Bündel zusammen, das sie sich unter den Arm klemmte. »Sie sehen schon besser aus.«
»Danke sehr.« Maria wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie war hier zu Gast und verdankte diesen Menschen ihr Leben. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dafür erwartete man mehr als nur ein Dankeschön von ihr. Nur was?
Helda unterbrach ihre Gedanken, nahm sie am Arm und führte sie den Flur entlang. »Ich denke, Sie müssen etwas Richtiges essen«, sagte sie. »Na los, das Mittagessen ist gleich fertig.«
Sie kamen zu einer großen breiten Holztreppe, die ebenfalls mit wunderschönen Schnitzereien verziert war. Überall hingen Bilder desselben Künstlers, dessen lebhafte Farben sie so erfreut hatten, als sie wieder zu sich gekommen war.
»Hat der Doktor diese Bilder gemalt?«, fragte Maria die Krankenschwester. Sie schienen so gar nicht zu Dr. Carreras seriösem Auftreten zu passen. Eher zu einem viel jüngeren Menschen, der wie Maria gegen die Konventionen und all die unsichtbaren Grenzen aufbegehrte. Oder übertrug sie bloß ihre eigenen Gefühle auf die Kunstwerke?
»Doktor Otto? Nein, die stammen nicht von ihm.« Helda machte eine ausladende Handbewegung, die andeutete, wie viele Bilder es noch gab. Zum allerersten Mal sah Maria ein echtes Lächeln auf ihrem Gesicht. »Michael. Der Sohn des Herrn Doktor. Er ist der Künstler unter uns. Unser Augenstern.«
»Er ist sehr talentiert.« Maria hielt am Fuß der Treppe vor einem Bild an. Es war in helles Sonnenlicht getaucht, das durch die Fenster über den schweren Mahagonitüren in die Eingangshalle fiel. Auf der großen Leinwand war nur ein einziges kleines hellgrünes Blatt mit einem Regentropfen darauf abgebildet. Ein schlichtes, aber kraftvolles Bild, voller Dynamik, mit nur angedeutetem Sonnenlicht, das sich als bunt schillernde Reflexion im Tropfen fing.
Lächelnd zog Maria mit einem Finger die Bahn nach, die der Tropfen verfolgt hätte, wenn er vom Blatt abgeprallt wäre. Hoffnung. Das war es, was das Bild ausstrahlte. Das Leben ist voller Hoffnung.
»Maria«, hörte sie die Stimme des Doktors, der durch ein großes Zimmer auf sie zukam. Wie immer überschwänglich, leidenschaftlich. Es war bestimmt schön, fernab jeglicher Zivilisation zu leben, sich ganz den Patienten zu widmen. »Wie ich sehe, haben Sie die Arbeiten unseres ortsansässigen Künstlers entdeckt.«
»Ja. Die Bilder sind wirklich ganz reizend.« Maria bemerkte, dass sie die formelle Sprache des Doktors nachahmte und hätte beinahe laut über sich selber gelacht. Früher, wenn sie als kleines Mädchen bei Cocktailpartys von ihren Eltern deren Bekannten vorgestellt wurde, hatte sie sich auch immer so ausdrücken müssen. Sie war eine Meisterin darin, sich anzupassen. »Helda sagte, sie wurden von Ihrem Sohn gemalt?«
Der Doktor blieb abrupt stehen, einen Moment lang schien sich ein Schatten auf sein Gesicht zu legen, der aber genauso schnell wieder der gewohnt fröhlichen Miene wich. »Ja. Michael. Sie werden noch Gelegenheit haben, ihn kennenzulernen. Kommen Sie, na los, Sie müssen vollkommen
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