Wenn der Tod mit süßen Armen dich umfängt
Stockwerk fühlte sich leer an – als würde es schon seit sehr langer Zeit leerstehen.
Der Eingang lag an der langen Seite des Gebäudes, etwa in der Mitte. Am Ende des Empfangsbereichs konnte sie einen Schreibtisch aus Holz erkennen. Dahinter lag ein kurzer Flur, von dem mehrere Türen abgingen, deren Fenster im schwachen Licht einer Notausgangsleuchte schimmerten. Rechts und links davon gab es weitere Flure, die das gesamte Gebäude durchzogen. Irgendwo musste es doch Treppen oder Fahrstühle geben, die zu den Stockwerken mit den Patienten führten, und weitere Flure mit Büros und Untersuchungsräumen – aber es war so dunkel, dass sie nichts erkennen
konnte.
Sie lief um den Schreibtisch herum. Kein Computer. Nur ein Terminkalender, eine Tasse mit Stiften, ein Stapel Unterlagen, deren Enden sich in der feuchten Luft aufrollten und offenbar schon lange hier lagen. Dann noch eine Zeitung und – ja! – ein altmodisches Telefon mit Wählscheibe. Maria hob den Hörer ab – irgendetwas huschte davon und verschwand raschelnd unter der Zeitung – und lauschte. Nichts. Die Leitung war tot.
Der Schrei einer Frau zerriss die Stille. Maria ließ den Hörer fallen und richtete sich ruckartig auf. Der Schrei war aus einem der oberen Stockwerke gekommen. Kurz darauf hörte sie die Frau wieder schreien – nein, das waren nicht bloß Schreie, sondern ein verzweifeltes Heulen, in das sich schrilles Lachen mischte.
Mehrere Frauen. Patientinnen? Aber wo waren dann die Angestellten? Maria durchstöberte den Schreibtisch, fand eine leere Zigarettenschachtel und ein Päckchen Streichhölzer. Gebückt entzündete sie eines der Streichhölzer. Jetzt konnte sie erkennen, dass die Zeitung von gestern war. Sie las, was unter dem Logo auf den Papieren stand: CLÍNICA INVIERNO PARA LOS DELINCUENTES PSICOTICOS
Psicoticos . Sie wusste, was das hieß. Das hier war keinesfalls die Kurklinik, die sie sich ausgemalt hatte. Es war eine Psychiatrie für Straftäter. Ein weiteres unheimliches Lachen hallte durch das Gebäude.
Maria entschied, die Insassen lieber zu meiden, also schlich sie sich vom Schreibtisch weg in den dahinterliegenden Flur. Sie kam an jeder Menge Büros und einem Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter vorbei, mit einem Sofa, das nach Schimmel und Verwesung stank. Außerdem gab es einen klinischen Bereich. Vielleicht fand sie hier etwas Nützliches – ein Messer, Pflaster für ihre entzündeten Schnitte und Insektenbisse oder eine antibiotische Salbe. Sie stieß die Tür auf. Und wich vor dem beißenden Chlorgeruch zurück.
Sie starrte ins Dunkel, in dem sie die Umrisse eines Menschen erkennen konnte. Da war jemand. Auf dem Untersuchungstisch. Völlig reglos. War derjenige festgeschnallt, so wie sie, als sie wieder aufgewacht war? Ruhiggestellt?
»Hallo?«, flüsterte sie. Keine Antwort. Sie schlich näher, schloss lautlos die Tür hinter sich. »Ist schon in Ordnung. Ich bin hier, um zu helfen.«
Die Person auf dem Tisch rührte sich nicht. Von den Umrissen her musste es sich um einen Mann handeln, doch irgendetwas an der Form war seltsam. Sie entzündete ein weiteres Streichholz und hielt eine Hand davor, damit kein Licht durch die Fenster nach draußen drang.
Jetzt sah sie sofort, warum der Mann sich nicht bewegte. Ihm waren beide Beine amputiert worden. Auch in der Brust klaffte ein großes Loch, als hätte ihm jemand die Rippen auseinandergezerrt, hineingegriffen und sein Herz herausgerissen.
Bilder der Menschenopfer bei den Maya kamen ihr plötzlich in den Sinn – es war wie eine Art geistiger Rettungsanker, da ihr Verstand sich weigerte, den grauenhaften Anblick zu begreifen. Sie wollte wegrennen, doch ihre Beine waren wie gelähmt.
Die kleine Flamme tanzte vor ihrer Hand, warf Schatten auf das verzerrte Gesicht des Leichnams. Prescott! Jemand hatte beide Augen herausgenommen und auch den Unterkiefer entfernt.
Marias keuchender Atem löschte das Streichholz. Sie stand wie angewurzelt da, panisch, fassungslos, und versuchte, den Schrei zu unterdrücken, der ihr in der Kehle brannte.
27
Itzel, die Frau, die sie gefangen genommen hatte, war Marias leibliche Mutter? Caitlyn warf Hector einen fragenden Blick zu.
Er stürzte nach vorn, beinahe hätte er seine Wachen überrumpelt. »Sagen Sie mir, wo sie ist, Sie …« Der Rest folgte auf Spanisch, aber Caitlyn verstand keines der wie eine Maschinengewehrsalve abgefeuerten Worte. Itzel reagierte in gleicher Weise, während ihre Männer Hector bändigten.
So
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