Wenn der Wind dich ruft
Vampir.
Portia klammerte sich an seine Weste, aber sie konnte spüren, wie sie taumelte, in einen dunklen Abgrund fiel, wo es nur ihn und seinen verheißungsvollen Kuss gab.
Über das Rauschen in ihren Ohren hinweg hörte sie kaum das derbe Gejohle oder die anfeuernden Pfiffe der anderen Gäste der Spielhölle.
Sie hätte sich vielleicht frohen Herzens diesem Abgrund überlassen, um niemals wieder herauszukommen, wenn sie nicht plötzlich den Stich in ihrer Unterlippe gespürt hätte. Erst als sie den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge wahrnahm, begriff sie, dass sie sich an Julians spitzen Eckzähnen die Lippe aufgeritzt hatte. Er schmeckte es auch. Sein scharfes Einatmen entzog ihr beinahe die Luft zum Atmen. Er löste sich abrupt von ihr, als hätte sie ihn gebissen und nicht andersherum.
Seine Nasenflügel bebten, seine Pupillen waren geweitet. Obwohl er keinen Muskel bewegte, schien er am ganzen Körper wegen eines primitiven Hungers zu vibrieren.
Portia berührte mit zitternden Fingern ihre Lippen. Ihr weißer Handschuh zeigte einen Blutstropfen. Julian schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren sie hart und undurchsichtig wie schwarzer Quarz.
Einer der Männer räusperte sich, dann deutete er mit dem Kinn zur Treppe. »Sie und Ihre Lady können oben ein Zimmer mieten für 'nen Schilling oder zwei.«
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Julian glatt, zog sie wieder in seine Arme, als seien sie ein bis über beide Ohren verliebtes Pärchen. »Ich habe erkannt, dass alles, was es sich zu haben lohnt, es auch wert ist, dass man darauf wartet, eine Ehefrau eingeschlossen.«
Unter dem billigenden Gemurmel und Gelächter der Menge strich er seine Gewinne ein, Portias Samthalsband eingeschlossen, und legte ihr seinen Umhang um die Schultern. Ehe sie nur ein Wort sagen konnte, hatte er sie mit sich aus der Spielhölle in die Nacht genommen.
Während sie von Julians besitzergreifendem Griff um ihren Ellbogen vorwärts gezogen wurde, bemühte sich Portia verzweifelt, ihren Hut und ihr Retikül nicht zu verlieren und trotzdem mit ihm Schritt zu halten.
Seine dünne Lackschicht Charme war verschwunden; seine Miene war unergründlich. Sie konnte nicht anders, als immer wieder verstohlen sein Profil zu mustern. Trotz des exzessiven Konsums von Wein und Frauen, wie sie es eben in der Spielhölle selbst hatte sehen können, hatte sein ausschweifendes Leben keine sichtbaren Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Seine vornehm gebogene Nase, der sinnliche Schnitt seiner vollen Lippen und sein Kinn besaßen nach wie vor die byroneske Schönheit, an die sie sich nur zu gut erinnern konnte. Byron vermoderte mittlerweile seit beinahe zwei Jahren in seiner Gruft in Nottinghamshire, das Opfer eines geheimnisvollen Fiebers und seiner eigenen Ausschweifungen, aber dank des Vampirs, der seine Seele gestohlen hatte, blieb Julian für ewig in der ersten Blüte seiner kraftstrotzenden Männlichkeit erstarrt.
Es fiel nicht länger Schnee. Der verschwommene Lichtschimmer der Straßenlaternen verbarg Julians Augen und malte unheimliche Schatten unter seine hohen Wangenknochen.
»Wohin bringst du mich?«, verlangte sie zu wissen.
»Zu deiner Kutsche.«
»Ich habe keine Kutsche. Die Droschke, die ich mir gemietet hatte, ist fort, weil der Kutscher sich geweigert hat, nach Einbruch der Dunkelheit in dieser Gegend zu warten.«
»Womit er wesentlich mehr Verstand bewiesen hat als du, nicht wahr?«
»Du kannst mich so lange beleidigen, wie du willst, aber ich habe nicht vor, empört davonzustürmen.«
»Dann bringe ich dich eben dorthin, wo du hingehörst«, erwiderte er knapp. »Nach Hause.«
Sie stemmte sich dagegen, weitergezogen zu werden, sodass sie beide abrupt stehen blieben. »Das kann ich nicht zulassen.«
Er fuhr zu ihr herum und schaute sie an. »Warum nicht?«
Sie öffnete den Mund, setzte zu einer Antwort an, zögerte aber einen Moment zu lange.
Er hob eine Hand. »Warte, lass mich raten. Ich bin vermutlich nicht länger willkommen im Hause meines Bruders. Welcher Vater, der noch alle Sinne beisammen hat, würde es schließlich zulassen, dass ich in die Nähe seines hilflosen Kindes komme?« Er schnaubte abfällig. »Adrian würde mich vermutlich mit einem von Carolines Regenschirmen aufspießen, ehe ich die Arme ausbreiten und die kleine Eloisa zu mir rufen könnte: >Komm zu Onkel Julian, meine Kleine! Nein, schau nur, was für einen süßen Hals du hast.<«
»Also hast du den Brief
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