Wenn die Liebe erwacht
augenblicklich. Sie stellte sich ihr als Lady Amelia vor, das Mündel Rolfe d’Amberts, doch Leonie wußte, daß sie die Frau war, die dem Schwarzen Wolf auf dem Turnierplatz ihre Gunst bezeugt und seinen leidenschaftlichen Kuß geduldet hatte. Ein Mündel? Zweifellos war sie eine Mätresse. Aber das störte Leonie nicht. Der Schwarze Wolf konnte von ihr aus hundert Mätressen haben, solange er sie in Ruhe ließ.
»Sir William und Lady Judith, machen Sie es sich bequem. Mein Gebieter Rolfe wird Sie sogleich begrüßen«, sagte Amelia in ihrem liebenswürdigsten Tonfall. Dann wandte sie sich an Leonie. »Mylady, wenn Sie mit mir kommen, führe ich Sie in ein Gemach, in dem Sie warten können, bis das Zeremoniell beginnt.«
Leonie sagte kein Wort. Sie folgte der älteren Frau, denn sie war froh, sich der Gesellschaft ihres Vaters und Judiths entziehen zu können. Sie hatte auf dem Weg nach Crewel mit keinem von beiden auch nur ein Wort gesprochen. Ihr Vater hatte versucht, mit ihr zu reden, aber sie hatte sich von ihm abgewandt.
Leonie kannte Crewel gut. Sie wußte, daß Amelia sie in den kleinen Raum neben der Kapelle im Vorbau führte. Crewel hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Pershwick. Sir Edmond hatte sich in jeder Hinsicht um sein persönliches Wohlbehagen bemüht, und Leonie erinnerte sich daran, daß einer der Gründe, aus denen sie als Kind gern nach Crewel gekommen war, in der Faszination lag, daß sich jedesmal etwas verändert hatte. Einmal war über dem erhöhten Podest am herrschaftlichen Ende des Saales ein neuer Raum angebaut worden. Später war dieser Raum abgetrennt worden und wurde zum Gemach des Burgherrn. Als Alain zum Ritter geschlagen worden war, war am anderen Ende des Saales über dem kleineren Herdfeuer der Dienstboten noch ein Raum angebaut worden. Bald darauf war der freie Raum zwischen den beiden großen Gemächern ausgebaut worden, und jetzt gab es eine ganze zweite Etage, zu der vom Saal aus Wendeltreppen führten. Die ursprüngliche Decke war so hoch gewesen, daß die Räume selbst jetzt noch hoch waren.
Es war ein behaglicher Ort, der einem die Möglichkeit gab, sich zurückzuziehen, ganz anders als Pershwick, und doch steigerte sich Leonies Nervosität. Plötzlich ging ihr auf, daß die Mätresse des Schwarzen Wolfes sie unten im Saal empfangen hatte. Was für ein seltsames Verhalten. Er behandelte sie schon vor der Hochzeit mit Verachtung.
Das kleine Zimmer, in das Amelia sie brachte, war mit zwei Schemeln und einem Tisch eingerichtet, auf dem eine Flasche Wein und Gläser standen. »Es kann eine Zeitlang dauern, bis es soweit ist, Lady Leonie. Es muß noch eine Einigung über den Ehevertrag erzielt werden.«
»Ich habe es nicht eilig«, erwiderte Leonie teilnahmslos, und Amelia fragte sich, was sie von ihr halten sollte. Sie war davon ausgegangen, daß sie ihre Rivalin hassen würde, und sie hatte sich darauf gefreut, ihr in jeder erdenklichen Weise eins auszuwischen, aber das Mädchen, das vor ihr stand, war kaum größer als ein Kind. Sie sprach sogar kindlich. Da sie in ihren Umhang gehüllt war und ein langer Schleier ihren Kopf und ihr Gesicht verbarg, konnte man unmöglich sagen, wie sie aussah. Mädchen wurden mit dreizehn oder vierzehn Jahren und manchmal sogar noch früher verheiratet, und daher konnte sie sehr jung sein. Das würde für Amelia allerdings einiges ändern, denn sie konnte in einem halben Kind wohl kaum eine Rivalin sehen.
»Kann ich noch etwas für Sie tun?« fragte Amelia. »Möchten Sie vielleicht Ihren Schleier abnehmen oder … ?«
Leonie schüttelte den Kopf. »Wenn Sie mir meine Zofe Wilda schicken könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
»Wie Sie wünschen«, erwiderte Amelia mit einem tiefen Seufzer. In diesem Moment entschied sie, daß sie in Kürze wiederkommen und Leonie überraschen würde. Wenn sie erst eine Zeitlang in dem winzigen Zimmer saß, würde sie mit Sicherheit ihren Schleier abnehmen. Es war heiß hier.
Sie suchte das Mädchen und schickte es zu Lady Leonie. Dann hörte sie Rolfes zornige Stimme im Saal und eilte in die entgegengesetzte Richtung, um in der Küche nachzusehen, ob die Vorbereitungen glatt abliefen.
Das gehörte nicht zu den Dingen, mit denen sich Amelia gewöhnlich befaßte, da sie die Führung von Rolfes Haushalt dem Kämmerer von Crewel überlassen hatte, aber sie verspürte ganz und gar nicht den Wunsch, in das Zimmer zurückzukehren, in das sie an diesem Morgen ihre Habe geräumt hatte. Dieses Zimmer war
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