Wenn Die Nacht Anbricht
sofort am Haus vorbei Richtung Wald. (Obwohl das meiste Land aus Feldern bestand, hatten sie einen kleinen Kiefernwald, der hinter dem Haus lag.)
Ich war froh, dass sie mich am Handgelenk festhielt. Alles andere um uns herum war mir fremd. Die Bäume bildeten eine riesige dunkle Wand, und der Boden schien ebenfalls aus flachen schwarzen Schattenbäumen zu bestehen. Durch die schwankenden Äste drang hier und da ein wenig Mondlicht, und ich hätte am liebsten Himmel-und-Hölle an diesen hell erleuchteten Stellen gespielt. Das Einzige, was ich hören konnte, waren unsere leisen Schritte und der Wind, der durch die Kiefern strich.
Dann ließ Lou Ellen meinen Arm los, und ich prallte beinahe gegen sie, als sie abrupt stehen blieb.
»Da sind sie«, flüsterte sie und zeigte in den Wald direkt vor uns.
Ich konnte nur den Boden sehen. Erde, etwas Gras und Unkraut. Keine Markierungen – nicht einmal ein Stein oder ein Name.
»Habt ihr die Gräber nicht gekennzeichnet?«, fragte ich.
»Wir wissen, wo sie sind«, flüsterte sie. »Papa hat fünf Schritte bis zu den drei großen Kiefern abgemessen. Vor jeder liegt ein Baby.«
Sie ging noch einige Schritte weiter und zeigte auf den Boden.
»Dann weißt du es also einfach?«
»Ja«, sagte sie, als verstünde sich das von selbst.
»Und die Leute laufen hier drüber, als wär da nichts? Wenn sie es nicht wissen und so?«
»Keine Ahnung. Ich mach es jedenfalls nicht.«
Ich fragte mich, wie lange ich stehen bleiben musste. Es war nicht so interessant, wie ich geglaubt hatte. Aber ich wusste, dass es höflich war, einige Minuten zu verweilen, deshalb begann ich, über die Babys in der Erde nachzudenken und sie mir vorzustellen, wie sie in eine Decke oder ein Leinentuch eingewickelt dalagen. Was unter diesen Decken war, daran wollte ich allerdings lieber nicht denken.
»Warum legen wir Tote in den Boden? Was meinst du?«, fragte ich Lou Ellen.
»Wohin soll man sie sonst tun?«
Vielleicht stimmte das. Vielleicht hatten wir einfach keine andere Wahl. Aber mir gefiel der Gedanke nicht, dass ein Baby in der kalten harten Erde lag und von Würmern, Schnecken und Käfern umgeben war.
»Sind sie in Kisten?«, wollte ich wissen.
»Nein, in Stoff eingewickelt. Jedenfalls die zwei, an die ich mich erinnern kann.«
Das machte es noch schlimmer. Wenn es mein Baby gewesen wäre, hätte ich unseren hübschen kühlen Brunnen mit Meerjungfrauen und glitzernden Fischen vielleicht für einen besseren Ort gehalten. Vielleicht hatte Virgie Recht, und die Brunnenfrau war nicht nur böse oder verrückt. Vielleicht war sie sogar ein gar nicht so schlechter Mensch. So wie Birmingham auch einige hübsche Straßenbahnen hatte und gleichzeitig Leute in den Koksöfen schliefen. Trotzdem war es natürlich seltsam, unseren Brunnen in ein Grab zu verwandeln. Aber bisher hatte ich noch nie so intensiv auf die Erde gestarrt und mich gefragt, wie es wohl da unten in einer Decke war. Wenn ich etwas sehr mochte, würde es mir schwerfallen, es einzuwickeln und mit Erde zu bedecken, als wäre es Abfall, den die Hunde nicht ausgraben sollten.
Ich sah einen Schatten, der hinter dem einzigen Fenster vorbeihuschte, das noch erleuchtet war. Dort war es hell genug, um lange Haare auszumachen, obwohl es sich nicht um elektrisches Licht handelte. Es sah eher nach einer dieser Öllampen aus, die Mama aufbewahrte, falls es ein Gewitter gab.
»Ist deine Mama noch auf?«
»Nein, das ist Tante Lou.«
»Glaubst du, sie hat bemerkt, dass du nicht mehr da bist?«
»Wahrscheinlich. Aber sie wird annehmen, dass ich nur den Hügel runter bin.« Sie wies mit dem Kopf auf das Plumpsklo. »Sie läuft sowieso oft hin und her. Kann nicht gut schlafen, redet immer mit sich selbst und läuft hin und her. Manchmal weiß man nicht, ob sie noch ganz da ist oder nicht.«
»Ist sie gesund?«
»Manchmal schon. Aber manchmal kommt es mir auch so vor, als ob sie nicht im gleichen Zimmer mit mir ist. Dann sagt sie kein Wort. Überhaupt nichts.«
»Oh.« Ich begann mich umzudrehen, und überlegte, wie ich am schnellsten nach Hause kam, aber Lou Ellen redete einfach weiter.
»Einmal hab ich sie zu euch gebracht. Noch bevor sie hierher gezogen ist. Sie wollte sich in der Stadt umsehen, als sie uns besucht hat, und Mama hat mich losgeschickt, um ihr euer Haus zu zeigen, weil eurem Papa ja die Farm gehört und so.«
»Warum seid ihr nicht reingekommen?«
»Ich hab dich damals noch nicht gekannt.«
Mir kam eine Idee. Ich wusste,
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