Wenn Die Nacht Anbricht
meine Arme um ihre Taille und brachte sie dazu, »Uff« zu machen.
»Du drückst mich noch in der Mitte entzwei«, meinte sie, doch es klang nicht, als wollte sie mich ausschimpfen. Mit einer Hand fasste sie hinter sich und tätschelte mir den Kopf, so gut das ging. »Hattest du einen schönen Tag, Schatz?«
Ich erwiderte nicht »Ja, Ma’am«, wie ich das eigentlich vorhatte. Stattdessen erklärte ich: »Ich hab Lou Ellen gesagt, dass ich heute Abend zu ihr rübergehen würde.« Gleichzeitig wunderte ich mich, dass diese Worte so dringend herauswollten, dass ich sie nicht zurückhalten konnte.
»Nach dem Abendessen?«, fragte Mama, die das nicht weiter zu kümmern schien.
»Eine ganze Weile nach dem Abendessen. So um die Bettzeit.«
»Warum willst du so spät hin?«
Mir gefiel es zwar nicht, Mama anzulügen, aber ich war auch nicht dumm. »Wir wollen ein Abenteuer erleben«, sagte ich und dachte so schnell nach, wie ich konnte. »Ich bin bisher noch nie so spät weg gewesen, und wir dachten, es könnte Spaß machen, allein draußen zu sein und den ganzen Hof für uns zu haben, während der Mond scheint und sonst niemand da ist. Es wär dann so, als wären wir die letzten Menschen auf der Welt, und ich wette, nachts sieht alles ganz anders aus als am helllichten Tag.«
Ich überlegte, was alles anders aussehen würde, und malte mir die Nacht so aus, wie ich sie gerade beschrieben hatte. »Vielleicht versammeln sich alle Grillen und spielen in einem großen Orchester zusammen, wenn wir schon im Bett sind. Die Eulen sind bestimmt auch draußen und machen sich einen Spaß, indem sie die schlafenden Vögel von ihren Ästen stoßen, um zu sehen, ob sie aufwachen, ehe sie auf den Boden fallen.«
»Das ist das erste Mal seit einer halben Ewigkeit, dass du wieder so redest, Tess.« Mama sagte mir gewöhnlich, ich solle mit der Träumerei aufhören, doch diesmal schien es sie nicht zu stören. Sie lächelte, was kleine Falten um ihre Augen hervorrief, wie ich sie lange nicht mehr gesehen hatte, und sie strich mir mit der Hand über die Haare. »Hätte nie gedacht, dass es mir so fehlen würde. Hast du denn keine Angst vor Opossums oder dem Bösen Mann?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich erklärte ihr nicht, dass ich mich nur vor den Feen fressenden Opossums fürchtete und nicht den normalen. Außerdem nahm ich nicht an, dass die nachts herauskamen.
»Du hast ziemlich lange gewartet, um mir das zu sagen, nicht wahr?«, meinte sie und stellte vorsichtig einen vollen Eimer mit Wasser auf den Rand des Brunnens ab. »Und glaub ja nicht, mir wäre nicht aufgefallen, dass du mich gar nicht um Erlaubnis gefragt hast.«
»Tut mir leid, Ma’am. Darf ich? Bitte? Ich wollte nur ein bisschen weg und mal was anderes machen. Und Papa sagt doch immer, er will nicht, dass wir spätabends noch draußen sind. Deshalb hab ich gedacht, dass du’s mir sowieso nicht erlauben wirst.«
Mama schüttelte den Kopf und lächelte ein wenig. »Das hat er wegen der Jungs gemeint. Ich weiß nicht, ob es ihn groß stören würde, wenn du dich abends in einem Hof umsehen willst.« Sie blickte nach oben, wobei ihre Zungenspitze zwischen den Zähnen hervorblitzte. »Andererseits ist er in letzter Zeit ein bisschen angespannt. Am besten erwähnen wir es gar nicht. Du gehst einfach zu den Talbots rüber, wenn es an der Zeit ist … Aber sei leise beim Heimkommen, denn dann schläft er sicher schon.«
Sie nannte mir nicht einmal einen Zeitpunkt, an dem ich wieder zu Hause sein musste, und ich beschloss, dass es auch in Zukunft nie schaden könnte, Mama einzuweihen. Sie schien völlig entspannt zu sein.
Als ich kurz nach neun Uhr bei Lou Ellen eintraf, wirkte der Hof tatsächlich ganz anders als während des Tages. Gewöhnlich beobachtete ich von der Veranda aus, wie es dunkel wurde, doch diesmal lief ich durch die Dunkelheit und trat sie mit jedem Schritt nieder. Ich wusste nicht, worauf meine Füße trafen, was mich schneller atmen ließ, so dass ich ziemlich nach Luft rang, als ich bei Lou Ellen ankam, obwohl es kein weiter Weg war.
Sie wartete auf der Veranda auf mich, ein winzig kleiner Schatten in einem Schaukelstuhl. Der Schatten winkte und eilte dann die Stufen hinab, wobei ihre Pantoffeln ein leises Schlapp-schlapp-schlapp machten statt dem üblichen Tonk-tonk-tonk der Schuhe . Ihr Nachthemd reichte weit über ihre Knie, und sie hob es etwas hoch, damit sie sich nicht darin verhedderte. Sie begrüßte mich nur flüchtig und zog mich dann
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