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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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aber ich mochte das Gefühl nicht, von allen angestarrt zu werden, als wäre ich ein Ausstellungsstück. Bei Jungs und den meisten Erwachsenen hatte ich den Eindruck, als würden sie mich irgendwie vergleichen. Ich mochte es nicht, wenn man mich begutachtete.
    »Ich meine damit ja nur, dass ich diesen …«
    Ella unterbrach mich. »Du hast keinen Höcker auf deiner Nase. Also fang nicht wieder damit an. Wir wollen nichts mehr davon hören.«
    Sich mit Ella zu streiten war reine Zeitverschwendung. Also sagte ich tatsächlich nichts mehr. Ich schaute in die Bäume, während wir an ihnen vorüberliefen, und blieb dann stehen. Unter der abstehenden Borke einer Kiefer war die Zikadenhülle kaum zu bemerken. Braun und hart und in der Mitte geteilt. Ich stieg durch die Ranken und das knöchelhohe Laub, wobei ich meinen dunkelblauen Rock hochhob, um nicht an den Brombeeren hängen zu bleiben.
    »Wartet einen Moment«, sagte ich zu Ella und Lois so leise, dass sie mich wahrscheinlich gar nicht hörten. Sie waren gute zwanzig Fuß vor mir, hielten jedoch an und kamen zurück, ohne sonderlich überrascht zu wirken.
    »Hast du eine?«, fragte Lois.
    »Ja.« Ich zog sie vorsichtig ab, ohne die kleinen Beinhüllen zu brechen. Sie blieb an meinem Kragen hängen, als hätte sie nur darauf gewartet, ein hübscheres Zuhause zu bekommen als die schmutzige Baumrinde. Daheim wollte ich sie zu den anderen in die Schachtel unter unserem Bett legen. Ich bewahrte gern einige auf, um sie auch den Winter über tragen zu können. Wenn man vorsichtig mit ihnen umging, gingen sie nicht kaputt. In der Öffentlichkeit trug ich sie natürlich nicht. Nur zu Hause.
    Ella schüttelte sich angewidert und rümpfte die Nase. »Ich kann nicht glauben, dass du einen Anfall kriegst, wenn deine Haare zerzaust sind, aber so einen Käfer trägst, als ob er ein Diamant wär.«
    »Das ist kein Käfer. Der Käfer ist schon raus. Er macht einen Abdruck von sich und lässt den dann zurück.« Gewöhnlich sammelte ich meine Hüllen nicht, wenn andere dabei waren. Es schien eine ernstere Angelegenheit zu sein – und vor allem eine stillere –, wenn ich alleine war.
    »Es ist die Haut«, meinte Ella und rümpfte erneut die Nase.
    »Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber schau doch, wie perfekt sie ist.«
    Es war meine erste Erinnerung an etwas anderes als Mama oder Papa oder ein warmes Feuer oder den Esstisch. Ich war hinter dem Haus, während Mama die Wäsche aufhängte, und entdeckte auf einmal eine Zikadenhülle. Sie sah genauso aus wie die, die ich zehn Jahre oder so später hier im Wald fand. Zikaden waren keine einfallsreichen Kreaturen. Ich starrte sie an, bis mich Mama wegzog. Währenddessen löste ich sie vom Baum. Ich zerdrückte sie in der Hand, da ich noch nicht wusste, dass man sie sanft anfassen muss, und war entsetzt, weil ich glaubte, sie getötet zu haben. Mama erklärte mir, dass es nichts Lebendiges gewesen sei und ich es also nicht getötet haben konnte. Als ich die nächste fand, zog ich sie so sanft herunter, wie ich konnte – als hielte ich einen Schmetterling an seinen Flügeln fest.
    Ella hatte sich auf einen Baumstamm gesetzt, die Hände in die Hüften gestemmt, genau wie ihre Mutter das tat, wenn Ella sie ärgerte. »Wenn dir Henry Harken nicht gefällt, was ist dann mit Tom Olsen?«
    Tom wohnte neben Ella und Lois und machte sich manchmal als unser persönlicher Kurier nützlich. Wenn die beiden eine Nachricht für mich hatten, radelte er zu unserem Haus, überreichte mir das Brieflein und wartete, bis ich geantwortet hatte. Dann brachte er meinen Brief den Zwillingen. Er hatte schöne graue Augen mit langen Wimpern wie eine Frau. Mir fielen vor allem seine Augen auf, denn ich hatte Zeit, sie zu begutachten, da er mich nie direkt ansah, sondern vor allem auf meine Schulter schaute oder gegen seine Radreifen trat. Aber er lächelte immer und offenbarte so meiner Schulter seine leicht schiefen Zähne. Seine Augen und seine krummen Zähne waren mir sympathischer als Henry Harkens teure Kleidung.
    »Was soll mit Tom Olsen sein?«, meinte ich. Ich strich vorsichtig über die Zikade, um zu sehen, ob sie richtig befestigt war.
    »Findest du nicht, dass er absolut göttlich ist?«
    »Ella …« Sie hielt die meisten Jungen für absolut göttlich.
    »Das erste Basketballspiel findet Ende des Monats statt, und ich geh natürlich mit Hanson dahin.« Er machte ihr seit sechs Monaten den Hof. Ihre Eltern waren nicht so streng wie Mama und Papa, weshalb

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