Wenn Die Nacht Anbricht
malte mir aus, wie es wäre, mir einen Eimer mit Wasser über den Kopf zu schütten. Oder wie eines der Kinder hinunter zum Fluss zu rennen und mich dort in die Fluten zu werfen. »Sie haben vor allem aufgezählt, welche Frauen in Frage kämen, und fanden das Ganze so grauenvoll, dass sie gar nicht aufhören konnten, darüber zu reden.«
Celia trank ihren Becher aus und holte ihren Kautabak heraus. Es war eine schreckliche Angewohnheit, der sie aber seit den achtzehn Jahren frönte, die ich sie kannte. Inzwischen war es für mich nicht viel anders, als holte sie ihr Nähzeug heraus. Sie zog ihre Finger aus dem Mund und sah mich aus schmalen Augen scharf an. »Aber du redest nicht so gern drüber?«
»Über die Sache?« Ich atmete tief durch und fuhr mir über die Haare. »Seh keinen Grund dafür. Es ist nun mal passiert. Das Baby ist jetzt an einem besseren Ort.«
»Und was ist mit seiner Mama?«
An die Mutter hatte ich natürlich auch gedacht, den Gedanken dann aber in ein Gefäß gefüllt und dieses fest verschlossen. »Das geht mich nichts an. Das ist Aufgabe des Sheriffs.«
Ich hatte die Marmeladen fertig – Birne und Feige –, und am nächsten Tag würden die Essiggurken drankommen. Insgesamt war es genug, um bis zum Frühling zu reichen – plus ein oder zwei Gläser für Alberts Brüder, die bestimmt wieder vorbeikamen, um zu sehen, was sie abbekamen. Jetzt gab es nur noch die Bohnen zu machen.
Tess
In der Kirche konnten wir die Liste nur im Kopf durchgehen – wir hatten weder Stift noch Papier –, weil man gerade sitzen und die ganze Zeit aufpassen musste, da man sonst von Mama in den Arm gezwickt wurde. Wenn man mich beim Schreiben erwischt hätte, wäre ich vermutlich von Papa nach der Kirche zu Haus geschlagen worden. Virgie war schon zu groß, um noch geschlagen zu werden.
Es fiel mir schwer, still zu sitzen. Obwohl es draußen eine leichte Brise gab, heizten die Körper der Leute den Raum so sehr auf, als wären sie menschengroße Kaminfeuer. Alle außer Papa schwitzten, und die meisten nahmen sich beim Hereinkommen einen Fächer von dem Stapel neben dem Eingang. Sie waren rechteckig, klein gefaltet und warben für Garrett als »süßen, milden Kautabak«, was so klang, als handelte es sich um Toffees oder Pfefferminzbonbons. Während des Betens hörte man nur die Fächer durch die Luft rauschen – wusch-wusch – und die alten Männer ihren Schleim hochziehen. (Ich hatte Papa einmal gefragt, was es damit auf sich hatte, und er meinte, es hätte mit den Gruben zu tun. Die Gruben machten den Speichel hart und fest, wenn er im Hals stecke. Dann kam Mama herein, und er musste aufhören, denn sie mochte es nicht, wenn wir uns über Spucke und Ähnliches unterhielten.)
Die Baptisten hatten ein Glasfenster, aber unsere Fenster hatten keine bunten Scheiben. Man hatte die Kirchturmspitze mit Metallbolzen wieder befestigt, nachdem sie heruntergerissen worden war, aber davon abgesehen gab es wenig Hinweise auf die Aufregung, die das zu jener Zeit ausgelöst hatte. Insgesamt war es ein langweiliges Gebäude, das nur aus zwei Blöcken von Kirchenbänken, kleinen Fenstern und einem schlichten Holzboden bestand – also nichts, was sich anzusehen lohnte. Außer den Leuten.
Es gab viele Hüte und hübsche Kleider und glänzende Schuhe mit Fesselriemchen. Virgie trug ein zweiteiliges grünes Kleid, das Mamas Meinung nach allmählich zu eng wurde. Es war schwer, etwas zu finden, was für Virgie zu eng war, denn bei ihr stand nirgendwo etwas heraus. Mamas Korsett, bei dem Virgie mit dem Zuschnüren half, ließ Mama unter ihrem dunkelblauen Kleid und der Jacke weicher und runder erscheinen. Papa hingegen schien sich mit seiner Krawatte und dem weißen Hemd, das Mama zusammen mit dem Tischtuch in aller Frühe gebügelt hatte, sehr unbehaglich zu fühlen. Die meisten Männer wirkten ebenso unfrei in ihren Anzügen wie Papa, wohingegen die Frauen in ihren sonntäglichen Kleidern frisch gewaschen und zufrieden aussahen. Ich hatte genügend Zeit, die anderen zu begutachten, da der Großteil der Kirchenbesucher zu uns kam und sich nach dem Baby und unserem Befinden erkundigte – vor allem nach dem meinen. Dabei sahen mich die meisten gar nicht an, wenn sie wissen wollten, wie es mir ging, und keiner ließ mich mehr als ein Wort antworten, ehe sie fragten, wie es denn ausgesehen habe und wie wir es herausbekommen hätten und wer es denn unserer Meinung nach gewesen sei. Papa hockte da und sagte kein
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