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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Seine Kirche war nur einige Straßen entfernt, aber ich wusste, dass er nicht zur gleichen Zeit wie wir herausgekommen sein konnte. Wie lange er wohl gewartet haben mochte?
    Ich sah meinen Füßen dabei zu, wie sie die Stufen hinunterstiegen, und war froh, dass ich meine Schnürschuhe poliert und mir die Mühe gemacht hatte, meine Strumpfbänder anzuziehen. Mein zweiteiliges Kleid mit dem Gürtel in der Mitte war das hübscheste, das ich besaß, und ging mir bis zur Mitte der Waden, so wie ich es am liebsten mochte. Das schmeichelte meinen Beinen. Ich strich meine weißen Handschuhe glatt, während ich auf Henry zuging, und versuchte, dabei so natürlich wie möglich auszusehen. Doch schneller als mir lieb war, hatte ich das Ende der Treppe erreicht, und Henrys schwarze Schuhe und seine graue Hose rückten in mein Blickfeld.
    »Hallo, Henry«, sagte ich. »Schön, dich zu sehen.«
    »Hallo, Virgie.« Er lächelte und nickte wie ein erwachsener Mann. »Ich dachte mir, dass ich dich vielleicht nach Hause begleiten darf, wenn du nichts dagegen hast.«
    Ich war noch nie zuvor nach Hause begleitet worden und war mir sicher, dass Papa es nicht erlauben würde. Aber noch ehe ich etwas sagen konnte, marschierte Henry bereits die Stufen hinauf auf Papa zu. Ich sah vermutlich aus, als würde mir das alles nichts ausmachen, was aber nicht der Wahrheit entsprach. Papa hatte bereits die Hälfte der Treppe hinter sich gelassen und seinen Hut zurückgeschoben, um Henry genauer ins Visier nehmen zu können. Tess trat ihm beinahe auf die Fersen.
    »Mr. Moore – ich wünsch einen schönen Tag, Sir. Ich heiß Henry Harken Jr., und ich würde Virgie gern nach Hause begleiten, wenn es genehm ist.«
    Papa antwortete nicht sofort, sondern blieb nur mitten auf den Stufen stehen, während sich die Gemeinde an ihm vorbeidrängte. »Ich kenn deinen Vater«, sagte er. Die Leute strömten an ihm vorüber, als würde die Unterhaltung gar nicht stattfinden. Manchmal schlug ihm einer freundschaftlich auf die Schulter. »Gehst du durch die Stadt und bringst sie dann auf direktem Weg nach Hause? Nicht, dass du auf die Idee kommst, sie zum Essen einzuladen!«
    »Ja, Sir … Nein, Sir.«
    Dann trat Mama zu den beiden. Sie legte ihre Hand auf Papas Arm und betrachtete Henry eingehend aus ihren dunklen, warmen Augen.
    »Einen schönen Tag, Ma’am. Freut mich, Sie kennenzulernen …«, begann er, aber Papa unterbrach ihn.
    »Henry Harkens Junge«, sagte er. »Er will Virgie nach Hause begleiten.«
    Mama lächelte, als sie das hörte, und nickte. »Freut mich ebenfalls, dich kennenzulernen, Henry.«
    Papa zog sich den Hut wieder in die Stirn, so dass die Krempe einen Schatten auf seine Augen warf. »Du bringst sie bald wieder zurück, ja? Wir fahren mit dem Auto, werden also deutlich schneller zurück sein.«
    »Ja, Sir. Wir gehen direkt zu Ihnen nach Hause.« Er drehte sich zu mir um und warf dann noch mal einen Blick über seine Schulter. »Und Ihnen noch einen angenehmen Nachmittag, Sir. Ma’am.«
    Dafür erhielt er von Papa fast ein Lächeln, das sich jedoch noch in ein Nicken verwandelte. Mama und Papa schauten mich beide direkt an, als Henry ihnen den Rücken zuwandte. Mama sah aus, als würde sie mir gern dringend noch etwas sagen, während Papa wirkte, als … Na ja, ich konnte es nicht so recht einschätzen, aber wahrscheinlich war es Unsicherheit. Diese Miene kannte ich noch nicht von ihm.
    Also liefen wir in Richtung der Front Street los. Ich wusste, dass meine Schuhe bald ihren Glanz verlieren würden. Nur in der Front Street gab es einen Gehsteig, und nur dort war die Straße gepflastert. Überall sonst war alles mit rotem Gestein bedeckt, Überreste aus den Gruben. Der Boden wurde nicht so schnell schlammig, wenn es regnete, aber dafür bedeckte einen der rote Staub von Kopf bis Fuß. Trotz des roten Gesteins mochte ich den Spaziergang den Hügel hinunter. Das eigentliche Carbon Hill mit seinen Ziegelhäusern, die so einfallslos wie Bauklötze dastanden, war ausgesprochen hässlich. In der Hauptstraße gab es keine Kirchen. Um unsere Kirche zu erreichen, musste man links abbiegen und den Hügel hinauflaufen, während die Kirchen der Methodisten und Baptisten einige Straßen weiter rechts lagen. Das glänzende weiße Marmorgebäude und die bunten Glasfenster der Methodisten schienen zu Henry Harken zu passen. Ehrlich gesagt, gefiel mir die Kirche auch nicht schlecht, wenn auch nicht so gut wie Tess. Sie rief geradezu der Heilige Geist,

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