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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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wenn sie diese Hinterglasfenster sah. Mir sagte der Spaziergang an der Reihe hübscher Häuser vorbei mehr zu, deren Höfe sauber gekehrt waren und zwischen denen manchmal kleine Zäune standen, um die Grundstücke voneinander zu trennen.
    Am Fuß des Hügels hörten die hübschen Häuser jedoch auf, und die Geschäfte begannen. Hier gab es überall die gleichen langweiligen Ziegelbauten und keine Bäume, kein Gras, keine Farbe. Bloß dieser rote Staub. Man konnte ihn sogar auf der Zunge schmecken.
    Unser Zuhause lag etwa eine Meile von der Stadtmitte entfernt, doch unser Haus war von Papa und einigen Männern ein paar Jahre zuvor weiß gestrichen worden. Im Vorgarten gab es große Kleckse roter und rosafarbener Rosenbüsche, und wenn man aus dem Küchenfenster blickte, sah man nichts als Eichen und Kiefern, Hornsträucher und zwei riesige Amberbäume. Wir hatten Erde und keinen Staub. Die Stadtmitte machte mich immer durstig.
    »Du bist so still«, sagte Henry, und alles, was ich jemals gewusst hatte, flog mir aus dem Kopf.
    »Ich hab nur nachgedacht«, meinte ich schließlich. Wir überquerten eine der kleinen Holzbrücken, die über einen Graben an der Hauptkreuzung führte. Vor uns lag der letzte Block der Front Street. Die Gräben waren voller Unkraut und Wasser, und ich konnte Moskitos, Fliegen und Wolken anderer geflügelter Lebewesen surren hören.
    »Hast du eigentlich was dagegen, dass ich dich nach Hause begleite?«
    »Nein«, erwiderte ich hastig. Ich wusste, dass er mich für unhöflich halten musste. Er sah nicht schlecht aus und war unglaublich sauber. Sogar seine Fingernägel waren rein. Sein Hemd wirkte gestärkt und glatt, gar nicht mehr wie aus Stoff. Seine Haut war fleckig wie bei allen Jungs, und das gab mir ein etwas besseres Gefühl.
    Der Bürgersteig waren voller Kirchgänger auf dem Heimweg, denen wir immer wieder ausweichen mussten. Wir nickten grüßend, während wir uns einen Weg durch die Menge bahnten. Ich versuchte, nicht peinlich berührt zu wirken, und so zu tun, als würde mich Henry Harken eigentlich nicht nach Hause begleiten – o nein. Ich wollte vielmehr den Eindruck vermitteln, wir hätten uns nur zufällig getroffen und würden jetzt eben auf dem Bürgersteig in dieselbe Richtung gehen. Nichts weiter.
    Aber gleichzeitig bemühte ich mich, es für ihn leichter zu machen. »Das ist nett von dir. Wirklich nett.«
    Wieder fiel mir nichts ein, was ich noch hätte sagen können. Ein Wagen fuhr vorüber und holperte dabei über eine der Fahrrinnen. Henry, der auf der Straßenseite ging, legte eine Hand auf meinen Arm und lenkte mich etwas näher an die Schaufenster der Läden.
    »Du willst schließlich keinen Schlamm auf dein Sonntagskleid kriegen«, meinte er, obwohl die Fahrbahn trocken war. Trotzdem – es war rücksichtsvoll.
    Wir kamen am Elite Store vorbei, wo es schicke Hüte direkt aus New York und die neueste Mode gab. Ich warf kaum einen Blick in die Auslagen. Ich kannte keinen Menschen, der es sich hätte leisten können, einen dieser Hüte zu kaufen. Als ich gerade auf die Eingangstür zuging, rannte ein kleiner Junge in einer kurzen karierten Hose zwischen Henry und mich. Seine Mutter, die nicht viel älter als ich sein konnte, war ihm dicht auf den Fersen, erwischte ihn an seinem Hosenbund und hielt ihn fest.
    »Entschuldigen Sie vielmals!«, sagte sie zu uns. »Er ist so wild. Es ist, als wollte man einen Wirbelwind bändigen. Theodore, entschuldige dich bei diesen Herrschaften. Du wärst fast in sie hineingerannt.«
    Als sie ihre Hand um sein Handgelenk legte – sie versuchte nicht einmal seine zuckenden Finger festzuhalten – und er ein »Entschuldigung« herausdrückte, vermochte ich ihr Gesicht besser zu sehen. Sie war in der Schule einige Jahre über mir gewesen. Christy Irgendwas. In ihrem Seidenstrumpf war eine Laufmasche, und ihre Schuhe waren vorne zerkratzt.
    »Sag ›Es tut mir leid, Ma’am‹ und ›Verzeihung, Sir‹«, verbesserte sie ihren Wirbelwind.
    Noch immer über den Jungen gebeugt, lächelte sie zu uns auf. Ich versuchte, hinter ihre Augen zu sehen. Was war da außer der Höflichkeit? War sie unglücklich oder Schlimmeres? Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen und wirkte blass. Eindeutig erschöpft – aber war sie auch so erledigt, dass sie ihren Jungen lieber für immer loswerden würde, als sich noch einen weiteren Tag mit ihm zu quälen? Hatte es vielleicht noch einen Kleinen zu Hause gegeben, von dem sie sich für immer befreit

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