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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Wort, während Mama mit einem Achselzucken und einem verkrampften Lächeln immer wieder mit einem leisen »Weiß nicht« antwortete.
    Der Priester sah mit seinen weißen Haaren, die wie eine Wolke um seinen Kopf schwebten, und seinem jungen Gesicht freundlich aus. Er war ein besserer Vorsänger als die meisten, und seine tiefe, dunkle Stimme breitete sich wie warme Suppe in meinem Bauch aus. Er war einer längeren Zusammenkunft wegen in der Stadt, was vermutlich bedeutete, dass wir an den meisten Abenden in der Kirche sein würden. Vielleicht würde er aber auch manchmal oben in Winfield oder Eldridge sein, so dass wir zu Hause bleiben konnten.
    Das erste Lied, das wir sangen, war das Lied über die blutenden Schäflein.
     
    Mögen eure Sünden auch purpurrot sein, werden sie doch weiß wie Schnee.
    Mögen sie auch rot wie Blut sein, werden sie doch weiß wie Wolle …
     
    Wir sangen viel über das Waschen. Über das Waschen, Wasser und Blut.
    Lola Lowe war nicht da. Andere Frauen von unserer Liste hingegen waren gekommen, und sie hatten alle ihre Babys dabei, damit man sie sehen konnte. Ich ging im Kopf unsere Liste durch und hakte die einzelnen ab. Wir mussten noch zu Pride Stanton und Mrs. Taylor – ich glaube, sie hieß LeAnne –, um sie zu überprüfen, und zu Lola Lowe. Die drei Frauen wohnten nicht weit von uns, und wir kannten sie ein wenig, deshalb war es das Beste, uns erst um sie zu kümmern, ehe wir uns den anderen zuwandten. Ich nahm mir vor, das Virgie nachher vorzuschlagen.
    Ms. Genie musste während des Gebets ihrem Zweijährigen einen leichten Klaps auf die Hand geben, da er zu quengeln begonnen hatte. Es erschreckte ihn genug, damit er einige Sekunden lang still blieb, doch dann fing er zu heulen an. Der Vorbeter (er hatte eine ruhige, summende Stimme, die an das Geräusch von Bienen erinnerte und einen fast einnicken ließ), sagte in diesem Moment allerdings sowieso »Amen«. Sie drückte das Gesicht des kleinen Jungen gegen ihre Brust, legte den Arm um seinen Hinterkopf und schlich mit ihm nach draußen, wo sie ihn wahrscheinlich brüllen ließ, bis er genug hatte. Als Nächstes kam das Abendmahl, das Virgie bekam, aber Jack und ich noch nicht. Virgie war zwei Sommer zuvor im Fluss getauft worden, und seitdem durfte sie einen Schluck Traubensaft trinken und ein Stück Brot essen, das besonders lecker aussah, weil man es am späten Vormittag bekam, wenn das Mittagessen noch mindestens eine Stunde auf sich warten ließ.
    Dann sangen wir ein besseres Lied, und neben mir erklang ein heller Sopran.
     
    Wenn Frieden mich begleitet sanft wie der Fluss
    Wenn Leid zusammenschlägt über mir wie die Flut
    Was immer mein Schicksal ist – du hast mich gelehrt
    In meiner Seele ist stets alles gut, alles gut.
     
    Ich zappelte unruhig in der Bank und wünschte mir, dass die Sitze nicht ganz so hart wären. Papa warf mir einen so raschen Blick zu, dass ich ihn kaum bemerkte. Trotzdem versuchte ich, mich daraufhin ruhiger zu verhalten, und zuckte nur noch ab und zu mit den Zehen.
    Die Predigt wurde diesmal nicht im dröhnenden Brüllton gehalten. Nicht einmal zwischendurch wurde ein Wort laut betont, so dass die warme Suppen-Stimme schon bald meine Augenlider schwer werden ließ. Ich sah zu Maddie Reynolds hinüber, einer Frau mit einer apfelförmigen Figur und einer Mähne blonder Haare. Sie hielt ihr Kind im Arm, das die ganze Predigt über schlief, und schwankte dabei leicht von einer Seite zur anderen, während ihre Augen alle paar Sekunden zu ihrem Sohn wanderten.
    Und wir hatten sie tatsächlich verdächtigt, ihn getötet zu haben.
    Endlich war die Kirche vorbei. Mama und Papa wurden wieder mit Fragen aufgehalten, während ich zur Tür eilte, um frische Luft atmen zu können. Und zu meiner Verblüffung sah, wie dieser Junge mit den zurückgeölten Haaren, dieser Henry Harken, draußen auf Virgie wartete und sie fragte, ob er sie nach Hause begleiten dürfe.
     
    Virgie
    Mein Gott, ich wäre beinahe vor Schreck gestorben, als ich Henry Harken in seinem Sonntagsanzug vor der Kirche stehen sah. Aber ich befand mich bereits auf der obersten Stufe, ehe ich ihn bemerkte, und er hatte mich bestimmt schon gesehen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die restlichen Stufen herunterzukommen, wobei ich mir sicher war, dass mich alle beobachteten und insgeheim wussten, dass bisher noch nie ein Junge auf mich gewartet hatte. Er ging nicht einmal in dieselbe Kirche wie wir – er war bei den Methodisten.

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