Wenn Die Nacht Anbricht
hatte?
Dann war sie verschwunden, und als ich einen Blick über die Schulter warf, bemerkte ich, wie sie Theodore anlächelte, auch wenn sie ihn hinter sich herschleppte, so dass seine Füße alle paar Schritte vom Boden abhoben.
»Anstrengend«, sagte Henry und sah den beiden ebenfalls nach. Ich wusste, er machte nur Konversation, aber es ärgerte mich trotzdem, dass er glaubte, die beiden mit einem einzigen Wort charakterisieren zu können. Ich bemühte mich, dieses Gefühl abzuschütteln.
»Und? Wann seid ihr aus der Kirche gekommen?«, fragte ich.
»Wir kommen immer so um Viertel vor zwölf raus.«
Das taten wir auch, aber wegen des Priesters, der gerade unsere Gemeinde besuchte, war es diesmal später geworden. Auf Papas Taschenuhr war es halb eins gewesen. »Danke, dass du gewartet hast.« Mir fiel überraschend schnell eine weitere Frage ein, auch wenn ich die Antwort bereits kannte. »Du wohnst nicht in der Stadt – oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, wir wohnen östlich von Carbon Hill, genau am anderen Ende wie ihr.«
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte ich Annie Laurie Tyler, die immer so aussah, als stünde sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Mama schien jedes Mal müde zu sein, nachdem Annie Laurie sie besucht hatte. Die Frau hatte zu viel Gefühl. Sie bemerkte mich nicht, und ich ging so, dass sich Henry zwischen ihr und mir befand. Annie Laurie … Sie war die Art von Frau, bei der ich mir vorstellen konnte, dass sie eines Tages völlig den Verstand verlieren und ihr Kind ertränken würde. Aber sie kam trotzdem nicht in Frage, denn ihr Jüngster war bereits in Jacks Alter.
Wir liefen noch zwei Straßen weiter, bis wir zu Dr. Stricklands Drogerie kamen. Henry blieb stehen. Er wirkte recht zufrieden. »Möchtest du was Süßes?«
Ich hatte kein Geld, und es wäre mir unpassend vorgekommen, wenn er etwas für mich gekauft hätte. »Oh. Wir werden gleich essen, wenn ich nach Hause komm.« Ich lief weiter.
»Ich kauf dir, was du willst«, sagte er. »Wir können es auf dem Weg essen.«
In seiner Stimme lag etwas Bettelndes, was mir unangenehm war. »Nein, danke.«
»Ich kann jederzeit umsonst was Süßes von Galloways Laden kriegen«, prahlte er. In Galloways Kolonialwarengeschäft gab es große Fässer voller Süßigkeiten – Karamellbonbons, Lakritze und Weingummi. Manchmal gab Papa jedem von uns zwei Pennys, und wir brauchten eine Stunde, ehe wir uns entschieden hatten. Ich nahm nicht an, dass es so gut schmecken würde, wenn man es umsonst bekam.
»Hängt dir das denn nicht zum Hals raus?«, wollte ich wissen.
»Nein. Es gibt viel zu viele Sorten.«
Am Haus an der Ecke stand Maxine Horner unter ihrer Eingangstür. In der Hand hielt sie einen Besen und ein Kehrblech. Sie trug eine elegante Jacke in der Farbe von Butterblumen. Sie und ihr Mann Bob führten das Filmtheater Pastime , das zwei Straßen weiter lag. Sie hatte in letzter Zeit kein Kind bekommen.
Ich war erst einmal im Pastime gewesen , um an einem Samstagnachmittag einen Western anzuschauen.
»Guten Tag, Virgie«, sagte sie und zog ein wenig die Augenbrauen hoch. Sie lächelte, als sich Henry ihr so weit zuwandte, dass sie sein Gesicht erkennen konnte. »Und guten Tag, Henry.«
Wir beide lächelten und winkten ihr zu, und ich wusste, dass morgen Früh alle wissen würden, dass er mich nach Hause begleitet hatte.
»Hast du Frankenstein gesehen?«, fragte Henry nach einer Weile.
»Nein, ich bin eine ganze Zeit lang nicht im Kino gewesen.«
»Nächste Woche zeigen sie Dracula . Mit Bela Lugosi. Magst du Vampire?«
»Kann ich eigentlich nicht behaupten.« Ich befürchtete, dass er mich fragen würde, ob ich mir den Film mit ihm zusammen ansehen wolle. Aber das tat er nicht. Er fuhr nur noch eine Weile fort, über Vampire zu reden. Wie konnte man so etwas nur mögen?
Im Brasher Hotel ging es ziemlich geschäftig zu. Im obersten Stock standen die Leute Schlange, um ins Restaurant eingelassen zu werden. Ich sah hinauf und blickte direkt auf den Hintern eines Mannes, der auf dem Treppengeländer saß. Von meinem Blickwinkel aus schien es gar kein Hintern zu sein, sondern es sah eher wie eine verformte, zerquetschte Teigmasse aus. Ich reckte den Hals ein wenig, während ich weiterlief – allerdings nicht allzu lange.
Der Bürgersteig und die gepflasterte Straße hörten auf, so dass wir nun wieder auf den roten Steinen liefen. Ich beobachtete, wie mein Rock gegen meine Beine schlug, während ich
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