Wenn Die Nacht Anbricht
langsamer. Seht einfach immer nur auf die Pflanze, die ihr gerade pflückt. So vergisst man die Zeit.«
Wir machten also weiter, ungeschickt und langsam, bis ich schließlich einen Tropfen Blut auf der Baumwolle bemerkte. Meine Finger waren leuchtend rot, wund und an mehreren Stellen aufgekratzt. Ich war stolz auf meine Wunden. Ich presste die blutige Baumwolle auf den blutenden Finger, zog die Schleife aus meinen Haaren und wickelte sie um die Baumwolle. Ich wollte schließlich nicht die ganze Arbeit zunichtemachen und die Baumwolle verschmutzen.
Zweige und Steine bohrten sich mir währenddessen durch den Rock in die Knie, und mein Rücken tat weh.
»Virgie!«, rief ich über die Baumwollpflanzen hinweg. »Hab ich dir eigentlich von dieser Frau in der Baptisten-Laube erzählt?«
»Nein!«
Ich stand auf, konnte aber hören, wie sie noch immer raschelte. Also versuchte ich auch weiterzupflücken, während ich redete. »Diese Frau, die niemand kennt, ist nach vorn gegangen und hat zu weinen angefangen. Und als ich und Tante Merilyn auch nach vorne gingen, hat sie gesagt, dass sie gesündigt hat und Gott sie nicht mehr länger lieben soll.«
»Du bist nach vorne gegangen?«
»Nein, nicht so. Nicht um zu bereuen. Tante Merilyn ist zu ihr gegangen, um sie zu trösten, und ich bin mitgekommen. Aber findest du das nicht merkwürdig? Dass sie meint, Gott soll sie nicht mehr lieb haben?«
»Hast du sie gekannt?«
»Nein. Aber sie saß auch so nach unten gebeugt, dass ich sie nicht richtig sehen konnte. Sie war in sich ganz zusammengesackt.« Ich wischte mir über die Stirn, und ein Schauer aus Schweißtropfen regnete herab.
»Woher soll Tess sie erkannt haben?«, wollte Jack wissen, der seinen Baumwollbeutel auf einmal vergessen hatte. »Von damals, als sie das Baby in unseren Brunnen geworfen hat?«
»Sei still, Jack«, sagte ich. »Du bist noch zu klein, um über solche Dinge zu reden.«
»Bin ich nicht.«
»Bist du doch. Und hör auf, immer dazwischenzureden.«
»Ich will aber auch wissen, wer das getan hat«, erklärte er.
»Du wirst viel mehr Baumwolle als Tess pflücken, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt ist, ihren Mund zu bewegen«, meinte Virgie.
Das ließ ihn lächeln, und er fuhr brav mit dem Pflücken fort.
»Wir kennen sie also nicht?«, fragte Virgie.
»Tante Merilyn meint, sie ist die Schwester von jemand und kommt aus Brilliant.«
»Aber dann wäre es doch seltsam, wenn sie extra zu unserem Brunnen gegangen wäre. Wieso sollte jemand, den wir nicht kennen, unseren Brunnen auswählen?«
Darüber dachten wir eine Weile nach. Ein Moskito flog mir ins Auge, und ich rieb ihn mir gemeinsam mit etwas Schlaf heraus.
»Sie ist vielleicht nur zufällig vorbeigekommen«, meinte Jack. Keine von uns antwortete ihm, aber mir fiel auch nichts Besseres ein.
»Sie kann es nicht gewesen sein«, meinte Virgie schließlich. »Diese Frau in der Laube hat sich vielleicht schlecht gefühlt, weil sie ihre Kinder angebrüllt oder weil sie ihrem Nachbarn was Böses gewünscht hat. Kann im Grunde alles gewesen sein.«
Dem konnte ich nicht widersprechen. Aber ein Teil von mir wollte sich nicht von der Idee verabschieden, dass die Brunnenfrau auf keinen Fall jemand sein durfte, dem wir täglich zunickten. Schon bald dachte ich jedoch nicht mehr daran, sondern hatte nichts anderes als Baumwolle im Kopf, in den Händen und sogar in meinem Mund. Die Vormittagssonne brannte herab, aber es gelang mir noch immer nicht, mich in der Arbeit zu verlieren. Noch nie hatte ich eine derart langsame Sonne erlebt. Wir redeten nicht mehr miteinander, sondern pflückten nur, beugten uns herab und warfen die Baumwolle in die Beutel. Ich wusste, dass die Schwarzen auf den Feldern Lieder sangen, während sie Baumwolle pflückten, aber ich verstand nicht, warum. Ich fühlte mich überhaupt nicht in der Laune zu singen. Der Rücken meines Kleids war schweißnass, und mir fiel auf, dass auch Jacks Hände bluteten. Virgie hatte es bisher nicht bemerkt. Er hatte sich Baumwolle wie einen Verband um die Finger gewickelt.
Nach einer Weile stand ich auf, streckte mich und drückte den Rücken durch. Jack warf seinen Beutel auf den Boden und sah mich ernst an. »Ich glaub nicht, dass ich zum Baumwollpflücken geeignet bin«, verkündete er.
»Baby«, erwiderte ich.
Einen Moment lang sah er seinen Beutel so an, als wollte er ihn wieder aufheben. Doch dann streckte er mir die Zunge heraus. »Du kannst ja weitermachen, Besserwisserin. Zum
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