Wenn Die Nacht Anbricht
sofort in Anwesenheit des Mädchens. »Nenn sie nicht Ma’am. Das tun wir nicht.«
Papa hatte mir immer eingetrichtert, ich müsse zu jeder erwachsenen Frau »Ma’am« sagen, und ich hielt es für unhöflich, es nicht zu tun. Aber ich wusste, dass Missys Eltern ihr bestimmt erklärt hatten, warum man einen Schwarzen oder eine Schwarze nicht mit Titel ansprach. Sie galten nicht als Erwachsene. Entweder meine oder ihre Eltern hatten also etwas Falsches erzählt, und ich wusste natürlich, dass es die Summerfields waren, die falschlagen. Aber ich nahm an, Missy war sich genauso sicher, dass es meine Eltern waren, die sich irrten. Nach dieser Geschichte versuchte ich jedenfalls, dem Hausmädchen aus dem Weg zu gehen, wenn ich Missy besuchte, denn ich wusste nicht, ob ich sie noch immer automatisch »Ma’am« nennen würde oder nicht. Es wäre im Grunde einfach gewesen, nicht weiter darüber nachzudenken. Aber etwas quälte mich und nagte an mir, so dass ich das Gefühl hatte, es stecke mehr dahinter. Doch nach einer Weile ignorierte ich dieses Nagen.
Ein weiterer großer, schwerer Gedanke drängte sich mir auf, nachdem die Talbert-Kinder wieder weg waren. Vielleicht war es auch eine ganze Gruppe von Gedanken, die zusammenhingen. Vor meinem inneren Auge sah ich auf einmal Lola Lowes Kinder, die dasaßen und nur Blaubeeren und Brot aßen.
Was auch immer es war – es war zu groß, um in meinen Kopf zu passen. Wir erzählten Papa von den Kindern, als er etwa eine Stunde später zu uns stieß, um ebenfalls zu Mittag zu essen. Erst jetzt merkte ich, dass wir gar nicht wussten, wie die beiden hießen. Wir hatten sie einfach immer nur die Talbert-Kinder genannt, was mir fast genauso falsch vorkam wie die Weigerung, meinen Fladen mit ihnen zu teilen.
Aber Papa war nicht wütend auf uns, weil wir ihnen nichts abgegeben hatten. »Ich bring ihnen was Besonderes«, sagte er. »Macht euch keine Sorgen.«
Tatsächlich hatten wir am nächsten Morgen noch ein Stückchen Wurst auf dem Tisch liegen, aber den Rest hatte er den Kindern gegeben. Es tat mir nicht leid, nicht mehr Wurst zu haben, und deswegen hatte ich das Gefühl, mich ein wenig christlicher verhalten zu haben und vielleicht doch kein so schlechter Mensch zu sein.
Albert
Ich dachte immer wieder an diese Männer in Scottsboro. Im vergangenen März waren neun junge schwarze Männer von Chattanooga nach Memphis gefahren und hatten dabei mit zwei weißen Mädchen in einem Zugwaggon gesessen. Es waren zwei weiße Mädchen, die nicht anständig waren. Die Mädchen behaupteten später, die Schwarzen hätten sie vergewaltigt, und kurz darauf warf man alle Männer in ein Gefängnis in Scottsboro, wo acht von ihnen zum Tode verurteilt wurden. Die Geschworenen bewahrten nur einen Zwölfjährigen vor dem Todesurteil, wobei sie auch bei ihm versucht hatten, ihn dranzukriegen. Ich hatte gehört, wie die Schwarzen in der Grube darüber sprachen, dass diese Mädchen ihre Körper verkauft, sich aber hinterher geschämt hätten, mit einem Schwarzen zusammen gewesen zu sein. Die meisten von uns Weißen – einschließlich mir – glaubten, dass die Mädchen ehrlich waren, während die jungen Männer nicht das Recht hätten, länger am Leben zu bleiben.
Ich hatte immer geglaubt, dass es nur darum ging, wie man einen anderen Menschen behandelte. Ob Schwarzer, Weißer, Gepunkteter – es ging darum, alle fair und gerecht zu behandeln. Das war alles. Gesetze und solche Dinge interessierten mich nicht. Das waren nur Zäune und Schranken, die einfach so aufgestellt worden waren, und ich verstand nicht, warum es wichtig war, wo sie standen. Letztlich kam ich dann allerdings fast immer zu demselben Schluss, zu dem auch die Gesetze kamen. Denn ich verhielt mich stets so, dass ich keine Schranken durchbrach. Ich glaubte, mich richtig zu verhalten.
Tess und diese Fladen. Sie hatte einfach gar nichts gemacht, hatte diesen armen Talberts nichts von ihrem Essen abgegeben. Aber sie hatte darüber nachgedacht, ein schlechtes Gewissen verspürt. Sie hatte gewusst, dass sie anders hätte handeln sollen.
Das brachte mich wiederum dazu, mir Gedanken über den Unterschied zwischen Handeln und Denken zu machen. Ich hätte nie gedacht, dass Jonah ein Problem, mit dem ich nicht zurechtkam, so klar benennen konnte, dass er so eindeutig ins Innere dieser Frau zu blicken imstande war. Was Bill betraf, so hätte ich bei ihm angenommen, weil er so erfolgreich war, müsse er viele Einsichten und
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