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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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mehr sehen kann. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.«
    Jeder von uns hatte nur einen Fladen, aber wir hätten sie halbieren und mit ihnen teilen sollen. Doch wir taten es nicht. Und obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie kein Mittagessen bekamen, wollte ich vor allem, dass sie wieder weggingen, damit ich den Fladen und die Wurst ohne Schuldgefühle essen konnte. Das Schuldgefühl verschwand auch ziemlich schnell – sobald die beiden nicht mehr zu sehen waren. Sie wandten sich ab und kehrten zu den Reihen mit Baumwollpflanzen zurück, ohne auch nur ein »Nett, euch kennenzulernen« von sich zu geben. Keiner von uns verlor ein weiteres Wort über sie. Wir schlangen unsere Fladen herunter und leckten uns die Finger, wobei es uns nichts ausmachte, dabei auch etwas Blut, Erde und Baumwolle zu schmecken, solange wir nur diese letzten Krümel und den Geschmack der Wurst mitbekamen. Ich sammelte mit meinem feuchten Finger die Krümel von meinem Rock, während Virgie den ihren ausklopfte.
    Dann kehrte das schlechte Gewissen wie Sodbrennen zurück.
    Noch nie zuvor hatte mich jemand um Essen gebeten. Zwar kamen immer wieder Leute an die Tür, aber im Grunde kamen sie für Mama und Papa. Mama und Papa entschieden, wer ein paar Eier, einen Teller voller Bohnen oder ein ganzes Hühnchen bekam. So war es gewesen, so lange ich zurückdenken konnte: Leute kamen an die Tür, und sie bekamen garantiert irgendetwas.
    Ich, Virgie und Jack gehörten also eigentlich zu der Art von Leuten, die anderen helfen sollten. Aber wir hatten diesen Talbert-Kindern nichts gegeben. Das quälte mich. Es war nicht nur das schlechte Gewissen, sondern es verwirrte mich auch, weil es so etwas Einfaches gewesen war, das ich nicht getan hatte. Ich hasste das, obwohl ich eigentlich nichts hassen sollte.
    Seit dem Tod des Babys schienen die Dinge nicht mehr so gut zusammenzupassen, wie das bisher der Fall gewesen war. Natürlich hatte es schon vorher Dinge gegeben, die es in sich hatten. Papa war zum Beispiel der stärkste Mann der Welt, deshalb konnte ihn auch nichts verletzen. Trotzdem kam er immer wieder mit Verletzungen aus der Grube zurück. Gott war gut, aber er konnte jederzeit die Entscheidung treffen, dich in die Hölle zu schicken. Die Taufe im Fluss reinigte die Seele, aber trotzdem musste ich jeden Samstagabend ein Bad nehmen, selbst wenn ich vorher schwimmen gewesen war.
    Gewöhnlich achtete ich nicht darauf, wenn die einzelnen Stücke nicht ganz zusammenpassten, selbst dann nicht, wenn etwas Großes, Schweres am Rand meines Bewusstseins auftauchte und versuchte, sich hineinzudrängen. Vor allem dann nicht. Als ich eines Tages zum Mittagessen zu Missy Summerfield ging – Mama hatte es mir erlaubt –, stellte ich fest, dass sie nicht nur ein Hausmädchen hatten. Sie besaßen einen polierten Tisch, der beinahe genauso groß wie unsere Küche war und in dessen Mitte eine rotweiße Porzellanschüssel voller Orangen stand. Sieben Orangen insgesamt. Es waren so viele, dass sie vielleicht zu schimmeln anfangen würden, ehe die Summerfields dazu kämen, sie zu essen. Und irgendwie nahm ich nicht an, dass sie den Orangen nachtrauern würden, falls das geschah. Wir bekamen nur eine einzige Orange in unseren Weihnachtsstrumpf gesteckt.
    Ich war bereits mehrmals am Sonntagnachmittag bei Missy gewesen, als Missys ältere Schwester Besuch von Jungs bekam. Missy bat mich, sie nach oben zu begleiten, wo sie den Rücken ihrer Schwester puderte, damit diese einen ganzen Nachmittag voller Verehrer sauber und rein duftete. Mich faszinierte der Puder, der durch die Luft schwebte, als Missy mit der Quaste auf den Rücken ihrer Schwester tupfte.
    Außerdem gefiel mir bei Missy – und darauf war ich bei einem früheren Besuch gekommen, ehe ich die Schale mit Orangen entdeckt hatte –, dass es zu jedem Essen entweder Hühnchen oder Kotelett oder ein anderes dickes Stück Fleisch gab. Ich hatte also nie etwas dagegen, wenn man mich zum Essen einlud. Alle am Tisch wurden von einem Hausmädchen bedient, einer dünnen Schwarzen mit einem weißen Häubchen auf dem Kopf, die immer »Miss Missy« sagte, wenn sie Missy ansprach. Das fand ich lustig. Am Tag der Orangen dachte ich, dass sie das beste Leben führen mussten, das es auf der Welt gab. Ich überlegte mir gerade, ob ich wohl eine Orange zum Nachtisch haben konnte, als mich das Mädchen fragte, ob ich eine Scheibe frische Tomate möchte. Ich antwortete: »Ja, Ma’am.«
    Missy korrigierte mich

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