Wenn Die Nacht Anbricht
hergerichtet waren. Wenn eine Freundin vorbeikam, wischte Mama sich die Hände an ihrer Schürze ab und plauderte etwa eine Minute mit ihr. Falls die Freundin länger zu Besuch bleiben wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als hinter Mama herzutrotten, während diese Kleidungsstücke zusammenfaltete oder den Boden fegte. Ihre Schwestern zogen sie immer wieder damit auf, dass sie einen Sauberkeitsfimmel hätte.
Ich hatte die Küchentür wieder hinter mir zugezogen und stand auf der Straße, als ich in einiger Entfernung Tante Merilyn entdeckte. Zierlich und schnell wie Mama wirbelte sie beim Gehen kaum Staub auf. Ihre dunklen, kinnlangen Haare bewegten sich im Rhythmus ihrer Schritte, und ihre Arme schwangen hin und her. In einer Hand hatte sie einen Stapel Briefe. Sie bestand nur aus Bewegung – vorwärts, rückwärts, von Seite zu Seite, jede Richtung schien ihr zu gefallen.
Als sie mich sah, winkte sie mir mit beiden Händen fröhlich zu. »Virgie, meine Liebe! Geh wieder ins Haus, ich bring dir gleich Teegebäck!«
Ich drehte also um, stieg wieder die Verandastufen hinauf und wartete vor der Tür auf sie. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich auch keine meiner beiden Kusinen im Haus entdeckt hatte, sie aber auch nicht bei Tante Merilyn waren. Sie hatte zwei Mädchen, Naomi und Emmaline, die beide hübsch und äußerst beliebt waren. Außerdem plauderten die beiden für ihr Leben gern.
»Hallo, Tante Merilyn. Wo sind alle?«
Sie zuckte mit den Achseln und umarmte mich, ehe sie die Tür aufstieß. »Da und dort. Die Mädchen sind mit mir zum Postamt, und dann wollten sie noch etwas allein in die Stadt. Keine Ahnung, wo die Jungs sind. Vermutlich reißen sie irgendwo armen Käfern die Beine aus oder werfen sich gegenseitig in den Fluss. Dein Onkel ist im Laden.«
Onkel Bills Geschäft kam mir nie wie Arbeit vor. Statt in Dunkelheit und Schmutz verbrachte er seinen Tag umgeben von Stoffen, Nippes und Süßigkeiten. Ich hatte ihn nicht ein Mal schwitzen gesehen.
Wir betraten die Küche, und Tante Merilyn schien es nicht im Geringsten peinlich zu sein, dass es dort derart unordentlich aussah. Sie gab ein leises »Hmpf« von sich, das eher zufrieden als frustriert klang, als sie ihre Briefe auf den Tisch legte und einen Blick in das Spülbecken mit dem schmutzigen Geschirr warf. Schon im nächsten Augenblick öffnete sie die Schränke und holte eine Tasse und einen Teller heraus, über dem ein Tuch lag.
Ich fand mich in ihrer Küche genauso leicht zurecht wie in der unseren. Mama und Tante Merilyn sahen sich fast täglich, und Papa und Onkel Bill verstanden sich so gut wie zwei Erbsen in einer Schote. Onkel Bill hatte eine laute, dröhnende Stimme, welche die Wände zum Wackeln bringen konnte, wenn er sang. Die jüngste Tochter spielte dann meist Klavier dazu. Ich kannte niemanden sonst, der ein Klavier besaß. Manchmal kamen Tess und ich nach dem Abendessen zu Besuch – manchmal auch nur eine von uns – und hörten Emmaline zu, wie sie spielte, während Onkel Bill sang. Ein Radio hatten sie nicht.
»Ich wollte schon seit Wochen mit dir reden«, meinte Tante Merilyn. »Deine Mama hat mir erzählt, dass du zusammen mit Tess Lola besucht hast.«
»Stimmt«, erwiderte ich. »Wir sind nicht lange geblieben.«
Sie stellte den Teller mit dem Gebäck vor mich hin, und ich nahm einen beinah perfekt runden Keks, der nur am Rand ein wenig braun war. Erst da wurde mir klar, dass etwas nicht stimmte. »Woher weiß Mama das?«
»Lola hat sie zu Hause besucht. Sie hat euren Korb zurückgebracht. Hat dir das deine Mama nicht erzählt?«
»Nein.« Sie hatte es mit keinem Wort erwähnt. »Wann kam sie zu Besuch?«
»Gütiger Himmel – keine Ahnung. Ich war nicht dabei. Wahrscheinlich letzte Woche.« Sie schüttelte den Kopf, als hätte sich eine Biene in ihren Haaren verfangen. »Aber du bringst mich davon ab, was ich eigentlich sagen wollt. Seid ihr schon früher mal bei ihr gewesen?«
»Nein, Ma’am.« Ich warf einen Blick auf die noch nicht ganz fertig gerührte Butter. »Soll ich die für dich fertig schlagen?«
»Eilt nicht«, erwiderte sie.
»Wahrscheinlich willst du jetzt auch mit dem Abendessen anfangen …« Mama hatte vermutlich bereits mit dem Kochen begonnen, und es wäre mir lieber gewesen, bis zu den Ellbogen in Maismehl zu stecken, als mit Tante Merilyn über Lola Lowe zu sprechen.
»Eilt auch nicht«, wiederholte sie. »Virgie, warum in aller Welt bist du zu Lola? Und hast dann auch noch Tess
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