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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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mitgenommen?«
    Ich zögerte. Ich hätte behaupten können, dass wir uns nur nachbarlich zeigen wollten. Ich hätte behaupten können, dass wir die Lowe-Mädchen aus der Schule kannten und sie besuchen wollten.
    »Virgie?«, hakte sie nach.
    »Wir dachten, ihr Baby ist vielleicht das aus unserem Brunnen.«
    Sie wirkte nicht allzu überrascht, als sie sich schweigend einen Keks nahm. Ihre andere Hand bewegte sich nicht. Sie hatte die Angewohnheit, ihre Hand zu entspannen und die Finger so zu halten, als wären sie Teil eines Fächers. (Ich fand immer, dass das unglaublich elegant aussah, und übte es zu Hause vor dem Spiegel.) Sie knabberte einen Moment lang an dem Keks, ehe sie antwortete.
    »Dachte ich mir. Ich hätte dir allerdings gleich sagen können, dass das nicht sein kann. Lola ist eine gute Frau. Sie hat es schwerer gehabt als die meisten, aber sie tut für diese Kinder alles, was sie kann.«
    »Ich weiß.« Ich beobachtete das Gebäckstück, das in der Luft hin und her wanderte, während sie damit gestikulierte.
    »Hast du nicht befürchtet, dass ihr klar werden könnte, was ihr von ihr wollt?«
    »Nein.« Ich dachte an Mrs. Lowes Miene und unsere Unterhaltung. Sie hatte nicht den Eindruck gemacht, als hätte sie den eigentlichen Grund unseres Besuchs erraten. »Glaubst du, dass sie es weiß?«
    Sie legte den Keks auf den Tisch und rieb die Handflächen aneinander. »Ihr wolltet das Baby sehen.«
    »Das hat sie Mama gesagt?«
    Sie nickte. »Deine Mama war sich nicht sicher … Lola ist keine, die sich schnell aufregt. Aber deine Mama hatte den Eindruck, als dachte Lola, etwas klarstellen zu müssen.«
    Ich fragte mich, ob wir ihr die Freude an den Äpfeln genommen hatten, indem wir sie mit unserem Besuch so misstrauisch gemacht hatten. Ich konnte nur hoffen, dass das nicht der Fall gewesen war.
    »Habt ihr noch mehr mutmaßliche Mörderinnen besucht?«, fragte Tante Merilyn und zog eine Augenbraue hoch.
    »Nein, Ma’am.« Ich bemerkte noch rechtzeitig, dass ich anfangen wollte, an meiner Lippe zu nagen, und riss mich zusammen. »Wir wissen jetzt ja, dass der Junge nicht von seiner Mutter umgebracht wurde. Und außerdem sind uns die Frauen ausgegangen, die wir besuchen könnten. Wir haben alle Babys gesehen, von denen wir annahmen, dass sie es sein könnten.«
    Die Haustür wurde aufgerissen, und meine Kusine Naomi segelte ins Haus. Ihr himmelblaues Kleid – mit marineblauen Biesen am Kragen und den Ärmeln – schwang um ihre Knie. Sie fing die Fliegengittertür gerade noch auf, ehe sie zuknallte. In der Hand hielt sie ein dickes Buch. Sie hatte Onkel Bills moosgrüne Augen und Haare, die etwas dunkler als die meinen waren und ihr Gesicht in Locken umrahmten. Ihre Locken gehorchten ihr und fielen in perfekter Lockigkeit herab, anstatt so widerborstig wie die von Tess zu sein. Das war allerdings das Einzige an Naomi, das gebändigt schien.
    »Jemand sollte hier fertig buttern«, sagte Tante Merilyn, noch ehe Naomi den Mund aufmachen konnte.
    »Wer?«, gab sie sogleich zurück und runzelte die Stirn, während ihre Mundwinkel verdächtig zuckten.
    »Diejenige, die ihr Abendessen selber kochen muss, wenn sie nicht gleich loslegt«, erwiderte Tante Merilyn und bohrte Naomi den Finger in die Seite, als diese an ihr vorbeiging. Beide kicherten. Tante Merilyn und ihre Töchter waren keck und hatten zu allem eine Meinung. Sie zogen sich ständig gegenseitig auf und trieben es manchmal mit ihrem Geplänkel fast auf die Spitze. Tess war ihnen im Grunde nicht unähnlich.
    Naomi zog den Stuhl neben meinem heraus und zerrte das Butterfass zwischen ihre Knie. Sie schob sich den Rock hoch und stopfte ihn oben in die Strümpfe. »Tut mir leid, Mama«, sagte sie mit ernster Stimme. »Ich hab die Zeit vergessen.«
    »Schon gut. Nimm dir ein paar Kekse.« Tante Merilyn schien nie etwas so sehr aus der Fassung zu bringen, als dass sie einem nicht ihr Teegebäck angeboten hätte.
    »Hallo, Virgie«, sagte Naomi und lächelte mich an. »Wie geht’s so?«
    »Gut.«
    Naomi legte ihr Buch auf den Küchentisch, schlug es auf und knickte das Eselsohr auf einer der Seiten wieder auf. Sobald sie das Buch an der richtigen Stelle platziert hatte, nahm sie den Holzstößer in die Hand und begann, ihn auf und ab zu bewegen. Doch anstatt zu lesen, sah sie mich an, als wäre ich die erste Seite ihres Buchs.
    »Ich will nicht unhöflich sein und in deiner Gegenwart lesen«, erklärte sie. Selbst wenn sie nicht lächelte oder grinste, sah

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