Wenn Die Nacht Anbricht
zuvor einen Kuss, was ich jedoch nicht sah – und begann, mir von der Rede zu erzählen, noch ehe er seinen Hut abgesetzt hatte.
Ich sah Lewis vor mir, einen großen Mann mit buschigen Augenbrauen, die sein ganzes Gesicht zu überwuchern drohten. Er ragte über der Menge auf und sprach zu den Leuten wie ein Prophet aus dem Alten Testament. Pop machte aus dem Ganzen eine spannende Geschichte. Er beugte sich über mein Bett, fuchtelte mit den Fäusten in der Luft herum und ließ seine Stimme tief und dröhnend werden, so dass sie gar nicht mehr wie seine klang. Dann, erklärte er mir, warf ein Mann in der ersten Reihe während Lewis’ Ansprache über die Macht der Massen ein rohes Ei an dessen Schläfe. Das Ei lief über sein Gesicht. Mr. Lewis hielt kaum inne. Er wischte das Ei nur mit einer seiner riesigen Hände fort und sprach weiter. Als er zu Ende geredet hatte, verließ er, während die Menge vor Begeisterung tobte, die Bühne, trat zu dem Eierwerfer und schlug ihm mitten ins Gesicht.
Als Pop zu lachen aufhörte, wischte er sich die Augen und ermahnte mich dazu, selbst auf jeden Fall immer die andere Wange hinzuhalten. Er kratzte sich am Kinn und fügte dann hinzu: »Jedenfalls meistens.«
Ich überredete ihn, diese Geschichte immer wieder zu erzählen, ein Jahr nach dem anderen. Jeder neue Junge, den ich zum Abendessen nach Hause brachte oder jedes neue Mädchen, mit dem ich mich zufälligerweise in der Kirche unterhielt, musste sie hören. Irgendwann hätte ich schwören können, dass ich selbst in der Menge gestanden hatte. Ich hatte mit meinen eigenen Augen beobachtet, wie das Ei durch die Luft gesegelt kam. Ich hatte mit meinen eigenen Ohren gehört, wie es mit einem feuchten Klatschen und einem leisen Knacksen gegen Mr. Lewis’ Stirn geschlagen war. Ich hatte gejubelt und applaudiert, bis meine Hände schmerzten und Mr. Lewis dem betrunkenen Eierwerfer zeigte, wo es langging. (Garantiert hatte ich selbst von dort, wo ich stand, den Whiskey gerochen, nach dem der Werfer gestunken hatte.)
Ich hatte Pop genau genug zugehört, um seine Geschichte zu meiner eigenen zu machen.
Albert
Mir war klar, dass wir höchstwahrscheinlich nicht einmal von dem Baby dieser Frau gewusst hatten. Niemand erwähnte irgendetwas von einem Kind, das auf einmal verschwunden war. Etwa zwei Monate lang kontrollierten alle, ob die Nachbarn noch alle Kinder hatten – wobei natürlich viele Erklärungen und Ausreden gefunden werden mussten. Es gab das Gerücht, ein junges Mädchen in der Schule sei schwanger gewesen und habe das nicht öffentlich machen wollen. Einige nahmen an, dass sie es gewesen sein musste, die das Baby in den Brunnen geworfen hatte, obwohl Tess jedem, der ihr zuhörte, erklärte, wie groß und breitschultrig die Frau gewesen war. Es konnte sich also auf keinen Fall um ein junges Ding gehandelt haben.
Auf diese Art von Gerede gab ich nicht viel, aber ich konnte es auch nicht so schnell vergessen. Es ging mir die ganze Zeit im Kopf herum. Ich wartete auf der Veranda auf Virgie, die von einem Basketballspiel nach Hause kam.
»Du hast dich also nicht verletzt«, meinte ich.
»Nein, Sir.«
»Habt ihr gewonnen?« Guin war meist nicht so gut wie Carbon Hill.
»Ja.«
»Wie hoch?«
Sie runzelte die Stirn und wirkte auf einmal nicht wie eine Vierzehnjährige, sondern eher wie eine Vierjährige. »Weiß nicht.«
Ich hätte sie gern gefragt, was sie von diesem Olsen-Jungen hielt und ob er versucht hatte, ihre Hand zu halten, oder ob er auf ihre Haare gestarrt hatte.
»Ich hab nachgedacht, Virgie. Darüber, dass du mit diesem Soundso Olsen zu dem Spiel gegangen bist. Diesmal, wo die Mädchen dabei waren, ging das noch in Ordnung. Es war was anderes. Aber ich will nicht, dass du dich mit Jungs triffst. Das hat noch Zeit«, sagte ich.
»Einverstanden«, erwiderte sie und klang zufriedener, als ich erwartet hatte. Sie wollte sich schon abwenden und ins Haus gehen, doch auf einmal hielt sie inne und neigte den Kopf zur Seite. »Warum willst du das nicht, Papa?«
»Du bist noch zu jung. Du musst noch nicht mit Jungs herumlaufen.«
Sie wirkte nicht im Geringsten enttäuscht, als sie sich mit den Fingern durch die Haare fuhr und diese unter ihr Haarband schob, wie sie das immer tat. »Ja, Sir.«
»Falls dich ein anderer Junge fragt, erklärst du ihm einfach, dass du das erst in der Oberschule wieder darfst.«
»Aber er hat mich gar nicht richtig gefragt, Papa. Das hab ich dir doch erzählt. Wir sind
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