Wenn Die Nacht Beginnt
Gelegenheiten, bei denen sie ohne Sonnenlicht, Nachtlicht, Taschenlampe oder Scheinwerfer war, überfiel sie extreme Nervosität und Übelkeit. Sie wusste nicht, warum, und hatte es nicht einmal einem Psychiater sagen können, was es genau war, wovor sie in der Dunkelheit Angst hatte. Sie wusste nur, dass die Furcht quälend real war und so nahe wie der nächste Sonnenuntergang.
Tatsächlich erschien wieder die bezeichnende, kleine Kurve in Dan Hales Mundwinkel. Sie sah, dass er glaubte, sie mache Witze. Fast alle glaubten das, auch ihr letzter Freund, der schließlich gegangen war, nachdem er sie wütend beschuldigt hatte, seine ›Bedürfnisse zu ignorieren‹, weil er nicht schlafen konnte, wenn im Zimmer eine Lampe brannte. Sie konnte aber nicht ohne Licht schlafen. Sie hatte geweint, als er sie verließ, aber in Wahrheit hatte sie weniger Angst vor dem Alleinsein als vor der Dunkelheit.
In einem einzigen ätzenden Wort fasste Dan seine Reaktion zusammen: »Und?«
Amelia versuchte es noch ein letztes Mal, obwohl sie wusste, dass kein Reporter mit nur sechs Monaten Berufserfahrung nach der Journalistenschule es sich leisten konnte, einen Auftrag abzulehnen, auch wenn er ihr ein mulmiges Gefühl machte und sie Pudding in den Knien hatte. Dan Hale hätte ihr auftragen können, einen Serienmörder zu interviewen, und sie hätte vielleicht nicht gezittert, aber das hier traf sie genau dort, wo ihre Courage ein klaffendes Loch hatte.
»Und genau da«, erklärte sie, »leben Geister. Im Dunkeln.«
Amelia lächelte vorsichtig ihren Chef an, in dem Wissen, dass es mehr wie eine Grimasse aussah. Das Grinsen eines Skeletts.
Er schien es nicht zu bemerken. Tatsächlich klang seine nächste Äußerung so, als ob sie nichts damit zu tun hätte.
»Sie sind verrückt nach Tieren, stimmt's?«
Amelia war über den Themenwechsel von Geistern zu Tieren erschrocken und verblüfft über Dans Ausdrucksweise und antwortete mit einem vorsichtigen »Ja?«. Sie war überrascht, dass Dan überhaupt von ihrer Leidenschaft für Tiere wusste. Sie nahm an, es gehe aus ihren Studienunterlagen hervor, dass sie kurz mit der Veterinärmedizin geliebäugelt hatte, bevor sie zur Journalistenschule wechselte. Sie hoffte jedoch, dass die Unterlagen nicht verrieten, wie katastrophal und tragisch das Ergebnis dieses Unternehmens gewesen war. Amelia hatte eigene Geister, und sie hätte es grässlich gefunden, wenn irgendein Reporter sie aufspürte.
»Das dachte ich mir«, sagte Dan. Seine Stimme war jetzt energisch, und sie wusste, die Angelegenheit war abgeschlossen – sie würde nach Kansas gehen. Er fügte hinzu: »Deshalb habe ich in der Serengeti-Pension ein Zimmer für Sie reserviert.«
Fast hätte Amelia sich noch einmal auf ein Ohr geschlagen.
Ungläubig fragte sie nach: »Ein Zimmer wo?«
»Es ist eine Frühstückspension auf dem Gelände einer Farm für exotische Tiere«, erklärte er ihr, was ihr Staunen nur vergrößerte. »Kamele, Lamas, Giraffen; Strauße, Elche, Kängurus. Das alles gehört einem Tierarzt.«
»Also, das ist eine Geschichte«, murmelte sie und wurde rot vor Verlegenheit, weil sie es laut genug gesagt hatte, dass er es hören konnte. Aber du liebe Zeit! Sie konnte ihre Reaktion nicht unterdrücken. Eine Farm für exotische Tiere? In Kansas? Konnte es so etwas geben? Und wenn ja, würde sie diese Tiere sehen, vielleicht sogar berühren können? So unwahrscheinlich das auch war, aber Amelia begann, sich auf ihre Aufgabe zu freuen.
»Nein.« Ihr Chef hatte einen ärgerlichen, sarkastischen Ton in der Stimme. »Das ist nicht die Geschichte. Geisterstädte sind Ihre Geschichte, vergessen Sie das nicht.«
Seine barschen Worte brachten sie ruckartig wieder auf den Boden der Tatsachen und zu ihren Ängsten zurück.
Amelia fürchtete sich ganz ehrlich vor der Dunkelheit – irgendwo tief drunten in einer schattigen Höhle ihrer eigenen Seele, aber der Mann, der ihr gegenübersaß, machte ihr noch viel unmittelbarer Angst: ihre wirtschaftliche Existenz stand auf dem Spiel. Sie hatte Studiendarlehen zurückzuzahlen. Sie war eine Anfängerin und konnte es sich nicht leisten, abzusagen, nur weil ihr eine Aufgabe zu viel Angst einflößte. Amelia brauchte nicht erst die reich bevölkerten Wände von Dans Büro zu betrachten, um sich daran zu erinnern, wie grundlegend die Meinung dieses Mannes sein konnte – für sie, für die Stadt New York, für die Welt.
An diesen Wänden hingen Preise und Fotografien mit
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