Wenn Die Nacht Beginnt
eindrucksvollen Autogrammen, Fotos von Dan Hale mit so vielen Staatsoberhäuptern, dass es ihr Mühe machte, sie alle mit Namen und Land zu identifizieren. Er mochte lediglich sechsunddreißig Jahre alt sein, aber er war bereits Chefredakteur einer der vier einflussreichsten wöchentlichen Nachrichtenmagazine der Welt. Er war ein Mann, dessen Meinung – so ging das Gerücht – einen Krieg beenden oder auch entfachen konnte.
Da sie lediglich Anfängerin war, bezweifelte Amelia, dass sie überhaupt an der eigentlichen Geschichte schreiben würde. Es war eher wahrscheinlich, dass sie ihre Notizen abtippen und einem älteren Redakteur geben würde. Dan schickte sie nur zum Recherchieren hinaus, das war alles. Aber es war schon etwas Besonderes, einen Auftrag von diesem Mann persönlich zu bekommen.
Während ihr all diese Gedanken durch den Kopf schossen, betrachtete sie den Mann; er erinnerte sie an einen Bären: groß gewachsen, übergewichtig, kleine Augen, füllige Wangen und ein irreführender, schlurfender Gang, hinter dem sich die legendäre Fähigkeit verbarg, Dummköpfe zu attackieren; in der Herstellung und in der Redaktion, tückisch und ohne Warnung.
Sie fühlte sich geschmeichelt, sogar geehrt, dass er sich für sie interessierte.
Sie war sich sicher, dass sein Interesse nicht im entferntesten romantischer oder erotischer Natur war. Dan Hale gab kein Signal, dass er Amelia auf dieser Ebene überhaupt wahrnahm, und das war erleichternd für sie. Es gefiel ihr sehr, Männern auf intellektuellem Niveau zu begegnen, rein beruflich. Ihre letzte gescheiterte Liebe hatte sie so traurig gemacht, dass sie immer noch in Stress geriet, wenn ein Mann sich von ihr angezogen zeigte. Bei Komplimenten fühlte sie sich unbehaglich. Sie hatte beschlossen, sie wollte keine Liebe; sie brauchte Arbeit, nur Arbeit.
Gott sei Dank war dieses Gespräch zwischen ihr und ›der Legende‹ rein professionell. Aus irgendeinem Grund schien dieser gefürchtete und respektierte Journalist zu glauben, dass Amelia Blaney seiner persönlichen Betreuung wert war. Amelia setzte sich gerade hin und versuchte, ihre Zweifel wegen des Auftrags hinunterzuschlucken. Sie konzentrierte sich stattdessen darauf, diesen schwierigen Chef zufrieden zu stellen, und erinnerte sich daran, wie sehr sie die Tiere liebte. Mit diesem Auftrag tat er ihr einen großen Gefallen. Sie würde versuchen, ihn richtig einzuschätzen und ihm gerecht zu werden.
Selbst wenn Geisterstädte in Kansas dazugehörten.
Er gab ihr Flugtickets und eine Karte der Autobahnen von Kansas, auf der bestimmte Städtenamen mit roter Tinte eingekreist waren. Dann entließ er sie ungeduldig aus seinem Büro. Erst als sie ziemlich atemlos draußen stand, fiel Amelia auf, dass er ihr keinen einzigen Anhaltspunkt für den Grund dieses Auftrags gegeben hatte, oder was, in aller Welt, sie suchen sollte.
Sie drehte sich um, mit der Absicht, noch einmal hineinzuplatzen und ihn zu fragen.
Aber er war bereits am Telefon und hatte seinem Fenster den Rücken zugewandt.
Als sie eine ältere Reporterin deswegen fragte, riet sie ihr: »Erwarten Sie keine Erklärungen. Manchmal verrät er überhaupt nicht, warum er Ihnen eine Story gibt. Das könnte Ihre Ermittlungen beeinträchtigen. Man erwartet von Ihnen, dass Sie die Fakten ausgraben und selbst herausfinden, worum es dabei eigentlich geht.« Die ältere Reporterin grinste Amelia an. »Und der Himmel sei Ihnen gnädig, wenn nicht das dabei herauskommt, was er von vornherein erwartet.«
O Gott! dachte Amelia und spürte eine Furcht in sich aufkeimen, die mit der Dunkelheit nichts zu tun hatte.
Mittwoch, 17. September
Während des Anschlussflugs zwischen Kansas City und Wichita am nächsten Tag studierte Amelia die Karte, die Dan ihr gegeben hatte, und entschied sich für die Reihenfolge, in der sie die verlassenen Städte ansteuern wollte: Spale, Bloomberg, Wheaten, McDermott, Flaschoen, Parlance und Stan. Der Name der letzten Stadt gefiel ihr besonders. Eine Stadt namens Stan – das klang freundlich und, nun, kleinstädtisch. Gedankenverloren fragte sie sich, ob New York jemals das Zentrum des Universums hätte werden können (das es ihrer Meinung nach war), wenn die Gründer es ›Stan‹ genannt hätten. Sie lachte in sich hinein.
Als eine Organisationslaune sie überkam, las Amelia die Informationshäppchen durch, die sie aus der Bibliothek geholt hatte, wie auch aus dem firmeneigenen Archiv (das selbst schon eine wahre Bibliothek
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