Wenn Die Nacht Beginnt
meisten von ihnen hingehörten? Trotzdem konnte sie sich nicht helfen, sie musste beim Anblick der Giraffe grinsen, und während sie das Auto parkte, fragte sie sich, ob sie auf umherstreifende Löwen achten sollte.
Zuerst schien es, als ob die Farm selbst ihre erste Geisterstadt wäre. »Außer uns Hühnern niemand da«, sagte sie zu einem prächtigen braunen Hahn, der mit ihr zur Haustür gekommen war. »Bist du der Wachvogel hier?«
Als niemand auf die Türklingel oder ihr Klopfen reagierte, gehorchte sie dem Schild, das sie aufforderte: ›Eintreten‹, und ging in ein Wohnzimmer, das zu einem Büro umfunktioniert worden war. Es gab zwei Schreibtische mit Anschlagtafeln dahinter. Die Wände waren bedeckt mit Fotos von Leuten, die mit Tieren posierten, und Ausschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften und niedlichen Dankesbriefen von Schulkindern.
Um die Zeit zu vertreiben, bis jemand auftauchte, um ihre Anmeldung entgegenzunehmen, ging Amelia in dem Zimmer umher, sah sich die Fotos an, las alles und fühlte sich, als ob sie auf der Suche nach der ›wirklichen Geschichte‹ sei, wegen der Dan sie hierhergeschickt hatte. Ging es um die Wirtschaft des Binnenlandes? Oder um Geschäfte mit exotischen Tieren? Wie sind diese Tiere überhaupt hierher gekommen? Wurden sie artgerecht gehalten? Waren auch bedrohte Tierarten darunter, die zu halten illegal war? Anstatt über Geisterstädte nachzulesen, hätte sie vielleicht Informationen über den internationalen Handel mit wilden Tieren sammeln sollen …
In letzter Zeit verdichtete sich bei Amelia immer mehr der Eindruck, dass sie nicht zur Journalistin geboren war. In Wahrheit gefiel es ihr nicht, Misstrauen gegen Menschen zu hegen, und sie war nicht einmal besonders neugierig – interessiert, ja, auf höfliche und wissenschaftliche Art und Weise, aber nicht neugierig in der Art geborener Klatschtanten oder Journalisten, wie sie oft sarkastisch dachte. Sie hasste es, rüde Fragen zu stellen. Sie zog es viel lieber vor, ›im Zweifelsfall für den Angeklagten‹ zu sein, als ihn zu verdächtigen. Sie war zum Feature-Schreiben gekommen, weil Enthüllungsjournalismus völlig unmöglich für sie war, denn ihr taten immer die Angehörigen der Bloßgestellten Leid. Ohne etwas wahrzunehmen, starrte sie auf einen der Schreibtische hinunter und dachte: »Und nun bin ich hier auf der Suche nach einer Geschichte, und ich weiß sogar, welcher!«
Sie hatte beim Lesen den Faden verloren und entdeckte jetzt, dass es gar nicht um wilde Tiere ging. »Was?«, fragte sie ungläubig, verwirrt von dem, was sie sah. Nachdem sie sich durch den ganzen Raum gearbeitet hatte, stand sie jetzt hinter einem der Schreibtische und schaute auf die Zeitungsartikel, die dort an die Wand geheftet waren.
In den Schlagzeilen tauchte das Wort ›Mord‹ auf.
Es war eine Reihe von Ausschnitten aus lokalen Zeitungen, die fast siebzehn Jahre alt waren. Sie handelten alle von einem lange zurückliegenden Mord an einem Mädchen namens Brenda Rogers, siebzehn, in der Abschlussklasse der High School von Spale. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, sollte die Abschiedsrede halten, war bei allen beliebt, und man hatte erwartet, dass sie später sehr erfolgreich werden würde. Sie hatte ein Vollstipendium für die Universität von Kansas in Lawrence erworben, und sie war das älteste Kind eines Ehepaares, das außerhalb der Stadt eine Farm betrieb. Die Fotos zeigten ein hübsches, blondes, lächelndes Mädchen, das es anscheinend genoss, fotografiert zu werden.
Vor Amelia enthüllte sich ein fürchterliches Verbrechen und ein schrecklicher Verlust, und sie war traurig wegen des Mädchens, der Familie und der Stadt, in der, so wurde berichtet, ›noch niemals etwas so Abscheuliches geschehen war‹.
Der Name des Mörders war Thomas Rogers.
»Er hieß genauso wie sie«, murmelte Amelia, die starr war vor Entsetzen über das, was sie las. Ebenfalls siebzehn – ihr Bruder? »Mein Gott, ihr Ehemann?« Nicht nur das, sondern auch der Vater …
»Ihres Kindes?«
Für eine Kleinstadt im Mittleren Westen um 1980 schien es Amelia eine unwahrscheinliche Kombination von Fakten zu sein. Aber was war daran eigentlich so unwahrscheinlich? Eine frühe Schwangerschaft? Oder der Umstand, dass der Junge sie heiratete? Nein. Es waren die kontinuierlich hohen Leistungen der jungen Mutter und das Stipendium, das Vollstipendium für vier Jahre, das an eine Siebzehnjährige mit einem Baby ging. Für Amelia deutete das
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