Wenn Die Nacht Beginnt
ein paar Sachen gesagt. Sachen, die dir gegenüber nicht fair waren, die verletzend waren.«
»Schau, du hattest das Recht …«
»Nein, lass mich ausreden. Ich habe ein paar verletzende Dinge gesagt, und ich möchte jetzt einfach sagen: bitte vergiss, dass es überhaupt geschehen ist. In Ordnung? Lass uns … lass uns einfach von hier aus neu anfangen als Bruder und Schwester und unser Zusammensein genießen. Ich bin froh, dass du aus Kalifornien zurück bist. Es wird gut sein, dich hier zu haben.«
»Kein Hindernis mehr?«
»Wohl kaum.«
Ich lächelte sie an, und plötzlich fühlten sich meine Schultern sehr leicht an. »Abgemacht.«
»Willst du nicht deine Schwester in den Arm nehmen? Und wenn du es tust, brich mir dabei nicht noch mehr Rippen.«
Ich drückte sie sanft und gab ihr einen Kuss auf die Wange, und als ich zurücktrat, sah ich auf den Globe hinunter, und auf die Geschichte über zwei Männer mit langen Vorstrafenregistern, die auf mysteriöse Weise ermordet worden waren, in einer Nacht, im Abstand von nur ein paar Stunden. Zwei Männer, die befreundet gewesen waren, die mehrerer Verbrechen verdächtigt wurden und deren Tod ein Rätsel darstellte.
Dann bemerkte Lynn, dass ich den Artikel gesehen hatte. Sie sah zu mir auf, lächelte, blinzelte mir zu und sagte: »Danke, Jay-Jay.«
Ich nickte zurück. »Gern geschehen, Lynn-Lynn.«
EDWARD D. HOCH Die ›Haggard Society‹
AlsJean Forsyth zum ersten Mal von der Haggard Society hörte, saß sie gerade an ihrem Schreibtisch im Rundfunksender und prüfte das Aufzeichnungsbuch der Werbesendungen der vorhergehenden Nacht; sie versuchte festzustellen, ob sie irgendwelche Ersatztermine anberaumen musste für die Dreißigsekundenspots, die während des Baseballspiels laufen sollten. Wie immer brachte ein Lautsprecher das laufende Programm des Senders in jedes Büro im Gebäude, und obwohl er abgeschaltet werden konnte, wenn es nötig war, hatte niemand in der Buchhaltung jemals den Mut, das zu tun.
Also hörte Jean mit allen anderen die kurze Ankündigung: »Das monatliche Treffen der Haggard Society, das für heute Abend in der Fenley Hall vorgesehen war, ist auf morgen Abend, acht Uhr, verschoben worden. Der Gastredner wird Eugene Forsyth sein.«
Jean wandte sich an die junge Frau in der nächsten Schreibkabine: »Marge, was ist die Haggard Society?«
»Keine Ahnung. Ich hab noch nie davon gehört. Vielleicht eine dieser Selbsthilfegruppen. Woher das plötzliche Interesse?«
»Ihr Gastredner ist mein Bruder. Ich habe ihn zwei Jahre lang nicht gesehen und wusste nicht einmal, dass er wieder in der Stadt ist.«
»Vielleicht ist es jemand anders mit dem gleichen Namen.«
»Vielleicht«, stimmte Jean zu. Aber es konnte zur Zeit nicht so viele Eugene Forsyth' geben. Ihr Bruder war drei Jahre älter als sie, und all die Jahre ihrer Jugend hatte er sich geweigert, Gene als Spitznamen zu akzeptieren, weil er dann mit ihrem Namen verwechselt werden konnte – etwas, das ihren Eltern gar nicht in den Sinn gekommen war, als sie die beiden taufen ließen. Eugene war mit achtzehn aufs College in Ohio gegangen und hatte dann nach ein paar Jahren das Studium abgebrochen. Er hatte ihnen gesagt, wenn er ein Jahr arbeiten und dort seinen Wohnsitz einrichten würde, könnte er an der Ohio State University zu einer niedrigeren Studiengebühr studieren. Aber er ging nie zurück, und seine Briefe wurden seltener.
Vor zwei Jahren war Jean nach Cleveland gefahren, wo er jetzt lebte. Ihre Eltern waren nach Florida gezogen, und es war ein Sommer, in dem sie sich besonders einsam fühlte. Sie wollte Eugene sehen, um die alten Bande wieder zu festigen, die sich gelockert hatten, seit er von zu Hause weggegangen war. Er hatte eine Wohnung in einem älteren Viertel der Stadt, das früher eine Mittelklassegegend gewesen, jetzt aber an den Rand der Verwahrlosung geraten war. Von seinem Fenster aus konnte Jean sehen, wie an der Straßenecke offen Drogen verkauft wurden.
Eugene erklärte, er habe eine Arbeitsstelle als Studentenberater, aber das war mitten im Juli, und er schien überhaupt nicht zu arbeiten. Sie fragte ihn nicht zu intensiv danach aus, und nach drei Tagen brach sie ihren Besuch ab und fuhr nach Hause. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und ihr Besuch bei ihm hatte nicht einmal eine Weihnachtskarte zur Folge gehabt.
Und jetzt, wenn er es wirklich war, sprach er vor einer Gruppe, die sich Haggard Society nannte. Jean dachte darüber nach und fragte
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