Wenn Die Nacht Beginnt
Mann.
»Ein Auto hat sie angefahren. Ich hab es gerade noch gesehen. Er hat nicht mal angehalten.«
»Hat sich irgendjemand sein Kennzeichen gemerkt?«, fragte jemand anderes, aber niemand antwortete.
Jean sah neben dem Körper die rosa eingefasste Brille auf der Straße liegen. »Ist sie …?«
»Jemand muss den Notarzt rufen, aber ich glaube nicht, dass es noch viel nützt.«
Sie wartete nicht auf den Rettungswagen und die Polizei, sondern beeilte sich, wegzukommen. Was hier geschah, was auch immer es bedeuten mochte, es war eine Bedrohung für sie. Genauer gesagt schien es eine Bedrohung für ihren Bruder Eugene zu sein. Irgendetwas war ihm passiert, aber sie konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Die junge Frau mit der pinkfarbenen Brille hatte das Gleiche befürchtet, sonst hätte sie am Ende des Vortrags nicht diese Frage gestellt.
Jean eilte nach Hause in ihre Wohnung, parkte das Auto an seinem üblichen Platz und verschwand durch die Seitentür. Der Unfall, dessen Zeugin sie fast geworden wäre, hatte sie mutlos gemacht, da es vielleicht gar kein Unfall gewesen war. Ein Auto überfuhr die Frau und raste dann in die Nacht davon. War das normal? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass ein unschuldiger Autofahrer angehalten und versucht hätte, dem Opfer zu helfen?
In den Elf-Uhr-Nachrichten im Fernsehen kam der Bericht über den tödlichen Unfall an zweiter Stelle, gleich nach einem Brand in einer Pizzeria auf der anderen Seite der Stadt. Die Polizei suchte den Fahrer des Wagens, und der Name des Opfers wurde zurückgehalten, bis die nächsten Angehörigen verständigt waren. Am nächsten Morgen in der Arbeit las sie, wie gewöhnlich über einer Tasse Kaffee, die Zeitung. Die tote Frau wurde jetzt als Amanda Burke identifiziert, eine unverheiratete Bibliothekarin, die in der Zentralbibliothek in der Stadt beschäftigt war. Das erklärte vielleicht ihr Interesse an H. Rider Haggard, aber es erklärte nicht ihre Verbindung zu Jeans Bruder, wenn es überhaupt eine gab.
In der Mittagspause ging sie die paar Blocks vom Sender zur Zentralbibliothek und wich unterwegs dem Löschzug der Feuerwehr aus. Es war ein neues vierstöckiges Gebäude mit einem Glasdach auf dem Atrium, das den Raum mit gedämpftem Sonnenlicht durchflutete. Amanda Burke hatte in der Literaturabteilung gearbeitet, und Jean ging sofort dorthin. Sie wies sich bei der Bibliothekarin an der Theke aus und sagte: »Gestern Abend habe ich Amanda Burke kurz vor ihrem schrecklichen Unfall kennen gelernt. Vielleicht könnten Sie mir etwas über sie erzählen.«
Die Frau starrte Jean an, als käme sie von einem anderen Planeten. »Sie sind Radioreporterin, sagten Sie?«
»Nein, nein, ich arbeite nur beim Sender. Ich … es ist für mich sehr wichtig, möglichst alles über Amanda zu erfahren. Ich glaube, sie war mit meinem verschwundenen Bruder befreundet.«
Die Frau zögerte und sagte dann: »Mark Jessup kannte sie. Vielleicht kann er Ihnen etwas sagen.«
Sie telefonierte mit ihm, und ein paar Minuten später kam ein großer, eckiger junger Mann zu ihnen an die Empfangstheke. »Hallo, ich bin Mark Jessup. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich wollte Sie nach Amanda Burke fragen.«
Er führte sie zu einer Gruppe Stühle beim Fenster. »Amanda war eine wunderbare junge Frau. Wir haben alle noch einen Schock wegen des Unfalls.«
»Ich habe fast gesehen, wie es passiert ist«, erklärte Jean. »Ich hatte sie gerade kennen gelernt, und sie wollte mit mir noch weiter über meinen Bruder sprechen.«
»Wie ist sein Name?«
»Eugene Forsyth.«
Er nickte. »Sie hat jemanden mit Namen Eugene erwähnt. Ich neckte sie damit, dass sie wohl einen Freund habe, und sie stritt es nicht ab.«
»Ich fürchte, meinem Bruder ist etwas passiert, aber ich weiß nicht, was.« Sie gab ein kleines Lachen von sich. »Ich weiß, es ist verrückt, sich Sorgen zu machen, wo ich noch nicht mal weiß, wo er die letzten zwei Jahre gewesen war.«
»Haben Sie ihn vor kurzem gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur sein Bild bei einer Versammlung der Haggard Society.«
»Und dort trafen Sie Amanda?«, fragte Jessup.
Jean nickte. »Mein Bruder sollte dort eigentlich sprechen, und ich ging hin, um ihn zu hören. Sie sagten, er sei krank geworden, aber Amanda stellte das in Frage. Die Leute, die die Versammlung leiteten, Martin Grist und seine Frau, beendeten daraufhin den Abend abrupt.«
»Seltsam.«
»Was wissen Sie über die Haggard Society?«
»Nicht sehr viel. Jedes
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