Wenn die Nacht dich kuesst...
hochschlug, versuchte sie, nicht an andere, wesentlich verlockendere Gründe zu denken, das Bett nicht zu verlassen.
Portia rollte sich von der Matratze und begann das Zimmer und seine vielen Schätze zu erkunden. »Jetzt weiß ich, warum Vivienne immer behauptet, der Viscount sei so großzügig. Sag mir bitte — was hast du getan, um eine solche Belohnung zu verdienen?«
»Nichts!«, entfuhr es Caroline mit mehr Nachdruck als nötig. Sie schlug die Hände vors Gesicht, um die verräterische Röte in ihren Wangen zu verbergen. »Gar nichts!«
Sie nahm mehrere abgetragene Hemden und Unterröcke aus der Truhe, ehe sie schließlich das schlichte, hochgeschlossene und langärmelige Morgenkleid aus Musselinbatist gefunden hatte.
Um keine Zofe rufen zu müssen, kam Portia und half ihr, das Korsett zu schnüren. Während sie ihre Haare anhob, damit sie sich nicht mit den Bändern verhedderten, fragte Caroline: »Wo ist Vivienne heute morgen?«
Portia verdrehte die Augen. »Wahrscheinlich hat sie sich eine gemütliche Ecke gesucht und stickt einen Bibelvers auf ein Mustertuch. Du weißt doch, sie braucht nicht viel, um sich zu unterhalten.«
»Wären wir doch alle so gesegnet.« Immer noch entschlossen, die letzten Minuten des Morgens bestmöglich zu nutzen, eilte Caroline zu der Waschschüssel, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen und sich die Zähne mit einem Tuch und Minzepulver abzureiben.
»Ich weiß nicht, warum du es so eilig hast«, bemerkte Portia. »Dem sauertöpfischen Butler zufolge kommt Julian auf keinen Fall vor heute Abend an. Und du weißt, Lord Trevelyan wird sich nicht vor Sonnenuntergang zeigen können.«
»Meinst du nicht, es ist an der Zeit aufzuhören, solche albernen Phantasien zu nähren?« Caroline ließ sich auf der gepolsterten Bank vor der Frisierkommode nieder, hob deren Deckel an und suchte nach dem Briefchen mit Haarnadeln, das die Zofe gestern Abend ausgepackt hatte. Während sie ihre langen glatten Haare im Nacken zusammenfasste, sagte sie: »Ich glaube dir genauso wenig, dass Lord Trevelyan ein Vampir ist, wie damals, als du es dir in den Kopf gesetzt hattest, du seiest Prinnys illegitime Tochter und die rechtmäßige Erbin des Throns von ... « Sie brach ab und starrte gebannt auf die Innenseite des Deckels der Kommode.
»Was ist?«, wollte Portia wissen und kam näher. »Du siehst wirklich nicht so schrecklich aus. Aber wenn du willst, kann ich meine Hasenpfote holen gehen und Reispuder auf die dunklen Schatten unter deinen Augen auftragen. «
Als Caroline immer noch nicht antwortete, spähte ihr Portia über die Schulter. Sie brauchte eine Minute, um zu erkennen, was Caroline sah. Oder besser nicht sah.
Langsam drehten sich die Schwestern um und schauten einander an, die Wahrheit spiegelte sich in den Augen der anderen. Obwohl das knotig gemaserte Eichenholz der Kommode eindeutig einen ovalen Rahmen hatte, gab es keinen Spiegel.
Es gab in Trevelyan Castle keine mit Tüchern verhangenen Spiegel. Es gab überhaupt keine Spiegel. Die plumpen Hände vergoldeter Putten hielten keine zierlichen Ovale. Keine hohen Wandspiegel hingen zwischen zwei Fenstern im Ballsaal. Kein Spiegel zierte die Wand über dem Kamin im Salon, um dem Gast zu erlauben, so zu tun, als starrte er ins Feuer, während er in Wahrheit sein Spiegelbild bewunderte. Keine eleganten Ankleidespiegel warteten in den Schlafzimmerecken, um Damen oder Herren die Möglichkeit zu geben, davor zu posieren, Gesten einzustudieren oder einfach nur Kleidung oder Frisur zu kontrollieren.
Caroline und Portia verbrachten den größten Teil des Nachmittags damit, Lakaien und Dienstmädchen aus dem Weg zu gehen, sodass sie unbemerkt in die verlassenen Zimmer der Burg hinein- und wieder hinausschlüpfen konnten. Ihre Suche brachte noch nicht einmal einen blinden Handspiegel zu Tage, der vergessen in irgendeiner Schublade lag.
»Vielleicht bist du nächstes Mal eher geneigt, mir zu glauben, wenn ich dir weiszumachen versuche, dass ich die rechtmäßige Erbin des Throns von England bin«, bemerkte Portia mit selbstzufriedener Miene auf ihrem Weg zum Südflügel.
»Ich bin sicher, es gibt eine vollkommen vernünftige Erklärung«, beharrte Caroline. »Vielleicht sind alle Spiegel abgenommen worden, um sie für den Ball zu polieren. Oder vielleicht sind die Kanes einfach nur kein bisschen eitel.«
Portia seufzte wehmütig. »Wenn ich so schön wie Julian wäre, säße ich praktisch ständig vor dem Spiegel und bewunderte
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