Wenn die Nacht dich kuesst...
Vaters vor fast sechs Jahren aufgehört hat zu schlagen. Als Mädchen hatte sie ein schweres Fieber, und das Klima in Italien bekommt ihren vernarbten Lungen wesentlich besser als dieses feuchte, kalte Gemäuer. Ich hatte gerade erst Oxford beendet, als sie Julian schickte, um bei mir zu leben.«
»Ah, dann wissen Sie auch, wie es ist, vorzeitig in die Elternrolle zu schlüpfen.«
»Allerdings. Obwohl ich sagen würde, dass Sie wesentlich erfolgreicher damit fertig geworden sind als ich. Als er anfangs nach Oxford kam, wollte Julian unbedingt immer überall hin, wo ich auch hinging. Aber ich meinte, er sei zu jung. Also vertröstete ich ihn und versuchte, ihn wegzuschicken. Mir zum Trotz, fürchte ich, hat er sich dann mit einer Bande von ziemlich zwielichtigen jungen Hitzköpfen eingelassen.«
»Aber es scheint doch etwas Gutes aus ihm geworden zu sein«, bemerkte Caroline.
»So gut, wie man es unter den Umständen erwarten kann, vermute ich.«
Von seinem unverkennbar bitteren Unterton überrascht, schaute sie ihn an. Es war, als wäre ein Vorhang über seine Züge gefallen und hätte das Fenster zur Vergangenheit verschlossen.
Ihr fiel eine seltsam leere Stelle zwischen den Portraits auf, und sie fragte: »Warum gibt es keine Bilder von Ihnen und Ihrem Bruder?«
Er zuckte die Achseln. »Meine Mutter hat immer behauptet, sie habe uns nie lange genug still halten können.«
Caroline kehrte zu dem ersten Gemälde zurück. Der Mann mit dem Gehstock und den Spaniels konnte nur Kanes Vater sein. Die kühne Anmut seiner Haltung und das unartige Funkeln in seinen Augen machten es Caroline nicht schwer zu begreifen, warum sich Kanes Mutter in ihn verliebt hatte. Sie beneidete sie um das Glück, einen solchen Mann zu lieben. Aber nicht um den Schmerz, ihn zu verlieren.
Unfähig, der Faszination seines herrischen Blickes zu widerstehen, ging sie noch einmal zu dem Bild des mittelalterlichen Kriegers zurück. Sie warf Kane einen verstohlenen Blick zu, dann beugte sie sich vor, als ihr ein unmöglicher Verdacht kam. »Die Ähnlichkeit ist so frappierend, dass es fast unheimlich ist. Man könnte fast schwören, dass Sie es sind. Himmel, Sie haben ja sogar genau das gleiche Muttermal genau hier über Ihrer rechten ...« Die Kerze erlosch und tauchte den Raum jäh in pechschwarze Finsternis.
»Mylord?«, flüsterte Caroline unsicher.
Kane stieß einen heiseren Fluch aus. »Verzeihen Sie meine Ungeschicklichkeit. Ich scheine die Kerze fallen gelassen zu haben.«
Unter der Tür am Ende des Flures war kein noch so schwacher Lichtschimmer zu erkennen, was Caroline verriet, dass draußen die Nacht angebrochen war. In der samtigen Schwärze erwachten ihre anderen Sinne zu schmerzlicher Schärfe. Sie konnte Kane ungleichmäßig atmen hören, den Lorbeerduft seines Rasierwassers auf seiner frisch rasierten Wange riechen, die Hitze seines Körpers spüren.
Obwohl sie so orientierungslos war, dass sie nicht glaubte, sie könne ihre eigene Nase finden, fand seine Hand zielsicher ihre. Er verschränkte seine großen warmen Finger mit ihren und zog sie sachte zu sich. Ihr erster Gedanke war, sich zu wehren, aber ein primitiver Trieb brachte sie dazu zu gehorchen, willig in seine Arme zu kommen oder wo auch immer er sie hinführen wollte.
»Folgen Sie mir und keine Angst«, sagte er leise, »ich kümmere mich um Sie.«
In dem Augenblick, so fürchtete sie insgeheim, wäre sie ihm sogar in die Hölle gefolgt. Aber ihre Füße ließen sie im Stich, und sie stolperte. Seine Arme legten sich sogleich um ihre Taille, um sie zu stützen, sein Atem strich flüsternd über ihre Wange und warnte sie, wie gefährlich nahe sein Mund ihrem war.
Ihre plötzlich trockenen Lippen befeuchtete sie sich mit der Zungenspitze. Sie fühlten sich irgendwie fremd an — geschwollen und empfindlich, als sehnten sie sich schmerzlich nach einem Kuss, zu dem es nicht kommen durfte.
Licht erstrahlte. Sie sah nur kurz Kanes Augen, dunkel von einem Gefühl, das vielleicht Verlangen war, ehe sie merkte, dass sie Zuschauer hatten.
Sie drehten sich beide gleichzeitig um und sahen Julian im Türrahmen lehnen, eine kunstvoll unordentliche Locke hing dicht über seiner Augenbraue. In der Hand hielt er einen mehrarmigen Kerzenleuchter. »Wenn du Miss Cabot die Leichen in unserem Keller zeigen willst«, erklärte er gedehnt, »dann solltest du vielleicht das nächste Mal daran denken, eine Kerze mitzunehmen.«
Adrian wusste, er sollte Julian dafür danken, dass
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