Wenn die Nacht dich kuesst...
beiseite und ließ ihn vorbei. Als er sich vor dem Bett auf die Knie sinken ließ und zärtlich Viviennes schlaffe Hand ergriff, musste Caroline wegschauen, aus Angst, die Tränen, die in ihren Augen brannten, würden fallen.
Portia rückte unwillkürlich näher zu Julian, der mit benommener Miene im Türrahmen lehnte.
Kane drehte sich auf dem Absatz herum, ging zu seinem Bruder und erklärte grimmig: »Auf ein Wort, wenn's genehm ist.«
Julian stieß sich von dem Rahmen ab und folgte seinem Bruder aus dem Zimmer, wobei er den Enthusiasmus eines Mannes an den Tag legte, der zum Galgen schritt.
Adrian betrat die Bibliothek, unfähig, das Bild abzuschütteln, wie Caroline zu ihm aufgeschaut hatte, ihre klaren Augen dunkel vor Argwohn.
Obgleich er sie mühelos hätte aus dem Weg schieben können, hatte sie sich ihm mit dem Mut einer Löwenmutter entgegengestellt, die ihre Jungen verteidigt, das Kinn trotzig gereckt, die Schultern gerade. Er hatte sich noch nie so sehr wie ein Ungeheuer gefühlt.
Er ging zu dem hohen Walnusssekretär in der Ecke und schob Bücher und Papiere zur Seite, bis er die staubige Brandy-Karaffe fand. Er verzichtete auf ein Glas, zog den schweren Glasstöpsel heraus und schüttete sich einen Schluck die Kehle hinunter, genoss das Brennen. Erst nachdem der Alkohol in seinem Magen angekommen war und begonnen hatte, seinen hilflosen Zorn zu lindern, drehte er sich zu seinem Bruder um.
Julian saß zusammengesunken auf einem Ledersessel vor dem kalten Kamin. Seine Erscheinung war beinahe so beunruhigend wie Viviennes. Es war keine Spur des eleganten Dandys zu sehen, der sie beim Abendessen gestern mit einer witzigen Anekdote über seinen letzten Besuch bei seinem Herrenausstatter in der Bond Street unterhalten hatte. Sein mahagonibraunes Haar war ungekämmt, sein weißes Hemd zerknittert und voller Rotweinflecken. Sein Halstuch hing schlaff um seinen Hals. Die dunklen Schatten unter seinen eingesunkenen Augen und die straff gespannte Haut über seinen Wangenknochen ließen ihn ein Jahrzehnt älter aussehen, als er war.
Adrian sagte kein Wort. Er schaute seinen Bruder einfach nur an, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Warum siehst du mich so an?«, fragte Julian schließlich scharf, und seine dunklen Augen flammten trotzig auf. »Ich weiß, was du denkst, aber ich habe absolut gar nichts damit zu tun.«
»Ich vermute, es ist purer Zufall, dass Vivienne zusammengebrochen ist, nachdem sie den Abend mit dir verbracht hat.«
»Den Abend mit mir Pharao gespielt hat«, verbesserte ihn Julian. »Ich schwöre dir, dass ich nur ein paar wertlose Haarnadeln von dem Mädchen gewonnen habe. Als die Uhr drei schlug, ist sie mit ihrer Schwester nach oben in ihr Zimmer gegangen, und ich habe keine von beiden wiedergesehen, bis ich das Dienstmädchen gehört habe und mit dir zu den Zimmern der Schwestern gelaufen bin.«
»Wenn du um drei Uhr mit dem Kartenspielen aufgehört hast, bleiben immer noch drei Stunden bis zum Morgengrauen. Was hast du in der Zeit getrieben?«
Julian ließ seinen Kopf in seine Hände sinken, sein Trotz zerbröckelte und wich Niedergeschlagenheit. »Wenn du es unbedingt wissen musst — ich kann mich nicht mehr erinnern. «
Adrian schüttelte den Kopf, zu wütend, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, seinen Abscheu zu verbergen. »Du hast wieder getrunken, nicht wahr?«
Das Schweigen seines Bruders war Antwort genug.
»Ist dir eigentlich nie der Gedanke gekommen, dass es vielleicht ein kleines bisschen gefährlich sein könnte, wenn du dich in so einen Zustand trinkst, dass du dich nicht mehr daran erinnern kannst, wo du warst oder was du getan hast?«
Julian sprang auf. »Und ist dir nie der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht gefährlicher wäre, wenn ich nicht tränke?«
Die beiden Brüder standen sich einen Moment angespannt gegenüber, aber Julian wandte als Erster den Blick ab, in seinen Augen ein leerer Ausdruck. »Warum sollte ich Vivienne nehmen? Schließlich ist es doch die Kleine, die mir wie ein besonders anhängliches Hundejunges auf Schritt und Tritt folgt, um Brosamen meiner Aufmerksamkeit bettelt. Sie ist es, die mit ihren lieblichen blauen Augen zu mir aufschaut, als wäre ich die Antwort auf ihre Gebete.
Wenn mir ein Ausrutscher passiert, meinst du nicht auch, es wäre mit ihr?«
Adrians Selbstbeherrschung brach. Julian am Hemd packend, knurrte er: »Wenn du dem Kind auch nur ein Haar krümmst ... «
Er beendete die Drohung nicht. Das musste er auch
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