Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
auch.
***
Der Weg zur Kreuzung war viel weniger leicht zu finden, als Nele es sich vorgestellt hatte. Und das lag nicht daran, dass sie nicht grundsätzlich gewusst hätte, wie sie dorthin gekommen wäre. Tatsächlich hatte sie die Kreuzung seit Beginn der Woche auf ihrem Schulweg etliche Male überqueren müssen. Aber es schien, als sei die Stadt an diesem Sonntag im Ausnahmezustand. Schon vier Stationen zu früh war der U-Bahn-Tunnel gesperrt, sodass Nele sich gezwungen sah, in einem Viertel auszusteigen, das sie überhaupt nicht kannte. Vermutlich hätte sie irgendwie auf Umwegen mit dem Bus an ihr Ziel gelangen können, aber darauf wollte sie sich lieber nicht verlassen. Also entschied sie sich schließlich, zu Fuß zu gehen. So konnte sie sich immerhin an dem Riss im Himmel orientieren, der wie ein bizarrer Pfeil auf die Stelle deutete, an der das Chaos ausgebrochen sein musste.
Und an den Katzen.
Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Nele eine Gegend erreichte, in der sie sich wieder auskannte. Aber sie fielen ihr schon vorher auf. Katzen, mehr als ungewöhnlich viele Katzen. Am Vortag noch hatte Nele versucht, sich einzureden, dass sie einfach nur paranoid war– heute war das ganz unmöglich. Sie waren überall. Und sie waren unruhig. Allein ihre Blicke machten Nele nervös, ohne dass sie das Geringste dagegen hätte tun können. Keins der Tiere lag heute entspannt herum, im Gegenteil. Sie wanderten, alle in die gleiche Richtung. Und Nele fiel es nicht schwer, zu erraten, wo sie hinwollten.
Mit einem flauen Gefühl im Magen folgte sie ihnen, wobei sie sich bemühte, es wenigstens nicht so aussehen zu lassen, als ob sie den Katzen nachliefe. Aber zum Glück war das schon bald nicht mehr schwer. Je näher Nele der Kreuzung kam, desto mehr Menschen entdeckte sie, die es offenbar in dieselbe Richtung zog. Schaulustige vermutlich. Oder hatten sie vielleicht auch einen anderen Grund? Manche von ihnen sahen schlaftrunken aus, ihre Blicke glasig und ihre Bewegungen unsicher, als seien sie gar nicht richtig wach. Und auch Nele spürte mit jedem Schritt wieder dieses Gefühl in sich wachsen, als befände sie sich noch immer in einem Traum. Nur dass es ein Traum war, auf den sie keinen Einfluss nehmen konnte. Und darum konnte es einfach kein Traum sein.
Schließlich bog sie um die Ecke, hinter der sie die Kreuzung zu sehen erwartete. Am Ende der Straße hatte sich bereits eine beachtliche Menschenmenge versammelt, die schob und drückte und auf die Kreuzung zu drängen versuchte. Nele sah mehrere Polizeiautos und Männer und Frauen in Uniformen, die den Pulk zurückdrängten– sicher mehrere Hundert Menschen, die die Hälse reckten und sich gegenseitig aus dem Weg zu schieben versuchten. Die Luft war erfüllt vom Summen und Rauschen ihrer Stimmen. Und es wurden immer mehr.
Ratlos blieb Nele stehen. Sie musste zugeben, auf diese Situation war sie nicht vorbereitet, dabei hatte Mommi es doch sogar noch gesagt: Die Kreuzung war gesperrt. Und natürlich würden bei so einem Ereignis die Neugierigen zusammenströmen. Aber Nele hatte nicht erwartet, dass sich halb Erlfeld hier versammeln würde. Sich durch das Gedränge bis nach vorn zu winden und dann auch noch an den Polizisten vorbeizukommen, schien ihr völlig unmöglich. Davon, Seth im aufgeregten Gewühl zu finden, einmal ganz zu schweigen.
Unruhig trat Nele von einem Bein auf das andere und sah sich um, aber ihr wollte einfach keine kluge Idee kommen. Schließlich konnte sie nicht, wie die Katzen, einfach über die Dächer klettern. Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte das dringende Gefühl, dass es wichtig war, möglichst nah an diese Kreuzung heranzukommen. Aber konnte sie ihrem eigenen Gefühl überhaupt noch trauen? Wieder durchströmte sie diese eigenartige Taubheit, die sie sonst nur aus ihren Träumen kannte. Diese Distanz von allem, als wäre es zu überwältigend real, um tatsächlich die Wirklichkeit zu sein.
Nele ging in die Hocke und legte eine Hand auf den Asphalt, der von der Sonne ganz warm war. Er fühlte sich rau an, und ein bisschen klebrig, genau wie Nele erwartet hatte. Eine ganz normale Straße.
Einen Schritt entfernt, gerade in Reichweite ihres Arms, lag ein Blütenblatt, winzig klein und strahlend weiß. Nele hatte diese Blätter heute schon einmal gesehen, auf dem Bild in der Zeitung. Dieses hier musste von der Kreuzung herübergeweht worden sein. Nele streckte die Hand aus und griff nach dem Blatt, rollte es zwischen den Fingern,
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