Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
die ihn angegriffen hatte, und die nicht zu seiner neuen Realität gehörte.
Sie hatte die Beine angezogen, einen Arm lässig über die Lehne gelegt und wirkte äußerlich vollkommen ruhig. Doch zugleich verriet ihr Blick eine Wachsamkeit, die Jari jeden Gedanken an eine unerlaubte Bewegung austrieb. Einmal mehr fragte er sich, wer die Frau wohl war, und was sie hier wollte– von ihm. Ein Mensch jedenfalls war sie nicht, so viel war sicher, auch wenn sie vom Körperbau her in etwa so aussah. Aber nicht nur ihre Haut war unnatürlich glatt und glänzte wie feuerrotes Glas, auch ihre Augen waren alles andere als menschlich. Sie standen raubtierhaft schräg, besaßen geschlitzte Pupillen und glühten im trüben Licht vom Fenster her nicht weniger intensiv als in den Schatten, aus denen sie Jari herausgezerrt hatte. Darüber hinaus hatte sie pelzbedeckte Ohren, die spitz aus dem zottigen goldbraunen Haarschopf der Frau hervorlugten. So sah einfach kein Mensch aus, auch kein sehr ungewöhnlicher.
»Und?«, fragte sie schließlich, wobei sie Jari unverändert scharf musterte. »Kannst du wieder einigermaßen klar denken?«
Jari nickte zögernd. »Ich glaube schon.«
Tatsächlich war er sich da gar nicht so sicher. Sein Kopf fühlte sich noch immer schwammig an, und seine Gedanken und Empfindungen hingen halbwegs in der unendlichen Wunderwelt fest, durch die er so lange gewandert war. Dieses Wohnzimmer, obwohl es doch der Ursprung von allem gewesen war, fühlte sich viel zu normal, viel zu nüchtern an, als dass er sich so schnell hätte umstellen können.
Die Frau verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und betrachtete ihn, als hätte sie so ihre Zweifel an dem, was er sagte. Dann aber schüttelte sie den Kopf, wie um ihre Bedenken als unnötig abzutun.
»Ich bin Tora«, sagte sie mit ihrer rauen Stimme. »Ich habe dich gesucht.«
Vergeblich versuchte Jari, sich die staubtrockenen Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Die ganze Zeit über, während er in der Welt jenseits der Wohnung gewesen war, hatte er nicht einen Gedanken daran verschwendet, ob er nicht irgendwann essen oder trinken oder schlafen müsste. Aber jetzt schienen gleich mehrere Grundbedürfnisse gleichzeitig ihren Tribut zu fordern.
»Warum?«, schaffte er es zu fragen, obwohl ihm die Zunge am Gaumen klebte und er sich wunderte, überhaupt einen Ton herauszubekommen.
Die Frau namens Tora schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Na, ich bin nicht die Einzige. Man könnte sagen, die halbe Welt ist auf der Suche nach dir. Ist dir eigentlich klar, was für eine Zerstörung du angerichtet hast?«
Zerstörung? Verwirrt schüttelte Jari den Kopf. Wieso Zerstörung? Er hatte doch nur Dinge erschaffen. Trotzdem dämmerte ihm irgendwo in seinem Unterbewusstsein, dass es vielleicht genau das war, was Tora meinte, auch wenn er es nicht verstand. Schließlich hatte sie rigoros gefordert, er solle aufhören, das Silberlicht zu Räumen und Gegenständen zu formen. Nur warum? Und was hatte sie gemeint, als sie ihn davor warnte, sich völlig zu verlieren?
Tora seufzte und schüttelte den Kopf. Anscheinend war Jaris Verwirrung sehr deutlich an seiner Miene abzulesen. »Natürlich nicht.« Sie stand auf. »Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen. Am besten, du schaust es dir selbst an.« Sie deutete zum Fenster hinüber.
Als Jari ihrem Fingerzeig mit dem Blick folgte, stockte ihm der Atem. Hinter der Scheibe breitete sich noch immer die Ebene aus, und dahinter die sich ständig wandelnde Landschaft unter dem anthrazitfarbenen Himmel. Aber der Himmel war zerstört. Eine gezackte, weit verästelte Linie zog sich durch das dunkle Grau, und dort, wo der Riss am tiefsten war, schien ein Sog zu entstehen, der ganze Teile der Welt unter ihm hinaufzerrte und verschluckte. Schon klafften große Löcher in der Landschaft, gefüllt mit schwarzem, waberndem Nichts. Ein stürmischer Wind war aufgekommen, der das Gras auf der Ebene platt auf den Boden presste und feuchte Erdklumpen aus der Grasnarbe riss.
Wie von selbst setzten sich Jaris Beine in Bewegung und trugen ihn zum Fenster, als würde er selbst von diesem Sog ergriffen. Als er die Hand an die Scheibe legte, war das Glas warm unter seinen Fingern, und es vibrierte, als hielte es sich nur mit Mühe in seinem Rahmen.
»Was passiert da?«, flüsterte Jari ehrfürchtig.
Tora stellte sich mit einem lautlosen Schritt neben ihn. »Das ist dein Werk«, sagte sie finster.
Mühsam riss Jari seinen Blick von dem
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