Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
roch vorsichtig daran und betrachtete es noch einmal von allen Seiten. Ein ganz normales Blütenblatt, auch wenn sie nicht hätte sagen können, von welchem Baum es stammte.
Und trotzdem stimmte etwas nicht damit.
Vorsichtig legte Nele das Blatt schließlich in ihre Handfläche. Ihre Finger glänzten leicht vor Feuchtigkeit, und in ihrer Nase hing noch immer der leicht säuerliche Geruch zerdrückter Pflanzenfasern. Aber an dem Blatt war nichts zu sehen. Im Gegenteil, es machte den Eindruck, als sei es niemals auch nur mit einer Fingerspitze berührt worden. Nele musterte es verwundert. Dies war ein echtes Blatt, kein Zweifel. Aber wenn es doch schon seit der letzten Nacht hier war, wie konnte es dann noch so heil sein? Hätte es nicht zerfasert sein müssen, zertreten von den vielen Schuhen, die heute schon über diese Straße gegangen waren? Spätestens, als sie es zwischen ihren Fingern zerdrückt hatte, hätte man etwas sehen müssen, aber eigentlich doch schon lange vorher. Ein Blatt aus der echten Welt hätte inzwischen ganz sicher eine eher graue Farbe gehabt, mit braunen Rändern, dort wo es begann zu verschrumpeln. Nicht so in einem Traum, natürlich, denn wer gestaltete einen Traum schon so detailliert, dass er darauf achtete, was mit Blütenblättern geschah, wenn man über sie hinweglief? Kam es dann also aus einem Traum? Aber was tat ein Blatt aus einem Traum in der Realität? Und hatte Nele sich nicht mehrfach versichert, dass dies hier ganz bestimmt kein Traum war?
Nein, sagte sie stumm zu dem Blatt. Du gehörst nicht hierher.
Ein Leuchten, silbrig und blau, blitzte am Rand ihres Sichtfelds auf. Mit einem Ruck hob Nele den Kopf. Der Riss, erkannte sie, war inzwischen direkt über ihr. War er etwa gewachsen? Ja, mit Sicherheit, und nicht nur das. Er hatte sich auch noch verästelt, wie ein Sprung in einer Glasscheibe. Aber am äußersten Ende eines der feinen Arme funkelte etwas, glomm hell auf und verlosch– und als Nele den Blick wieder senkte, war das Blatt in ihrer Handfläche verschwunden. Verwirrt starrte sie auf ihre Finger. Die Spuren, die das Blatt auf ihrer Haut hinterlassen hatte, waren immer noch da. Aber das Blatt selbst war fort. Es war auch nicht zu Boden gefallen oder weggeweht worden. Nein, es war verschwunden, als hätte es sich in Luft aufgelöst. Oder in Licht.
Ein Kribbeln breitete sich in Neles Brust aus. Was ging hier vor? Hatte sie das etwa getan? Rasch sah sie sich nach weiteren Blättern um und entdeckte mehrere, die verstreut in der Nähe herumlagen. Hastig sammelte Nele sie auf, bis sie ein kleines weißes Häufchen in ihrer Handfläche beisammenhatte. Dann setzte sie sich auf die Bordsteinkante und starrte angestrengt auf die Blütenblätter. Jedes einzelne glich dem ersten, das sie aufgehoben hatte, bis ins kleinste Detail. Die Form, die Farbe, selbst die feinen Linien, die die Pflanzenzellen voneinander trennten. Nele atmete tief durch. Wenn sie dieses erste Blatt wirklich selbst hatte verschwinden lassen, dann musste sie das wiederholen können.
Verschwindet, dachte sie und konzentrierte sich, so fest sie konnte. Kehrt zurück dahin, wo ihr hergekommen seid!
Die Blütenblätter glommen bläulich auf, so hell, dass Nele blinzeln musste. Und dann zerstoben sie vor ihren Augen in winzige Splitter aus Licht, die wie eine glitzernde Spur zum Himmel hinaufflogen, so schnell, dass Nele ihnen mit dem Blick nicht folgen konnte. Einer der fein verästelten Seitenarme im Riss verschwand mit einem kurzen Aufglühen, als hätte es ihn nie gegeben, und ließ nur klaren blauen Himmel zurück.
Nele spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie hatte es wirklich getan! Sie hatte die Blätter zurückgeschickt– und nicht nur das, sie hatte so anscheinend auch einen winzigen Teil dieses Risses gekittet! Aufgeregt sah sie sich um, ob noch weitere Traumfragmente in der Gegend sein mochten, vielleicht größere, damit sie sich absolut sicher sein konnte…
Doch stattdessen sah sie sich, als sie den Kopf wandte, einer zierlichen Katze gegenüber, die auf der anderen Straßenseite saß und sie beobachtete. Sie hatte goldenes Fell und graue Augen, so hell, dass sie fast farblos wirkten. Nele starrte sie an. Die Katze vom Hof der Leinenweberei! Das konnte kein Zufall sein! Nele wagte kaum, sich zu rühren. Die Härchen an ihrem Arm stellten sich auf. Hatte dieses Tier sie etwa schon die ganze Zeit beobachtet?
»Wer bist du?«, flüsterte sie.
Aber die Katze antwortete nicht. Sie
Weitere Kostenlose Bücher