Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Hatte er denn so viel vergessen? Was war das bloß, das ihm so wichtig gewesen war? Er wusste es nicht mehr. Und das war fast noch schlimmer als die Gefahr, es niemals tun zu können. Jari griff sich an die Brust, dann an den Kopf, als könnte er so den Gedanken ertasten, die Erinnerung greifen. Aber es gelang ihm nicht.
»Nele«, sagte Tora unvermittelt. »Sagt dir der Name etwas?«
Das Wort schlug in Jaris Kopf ein wie ein Blitz. Bilder stürzten plötzlich auf ihn ein, erschlugen ihn beinahe. Nele! Die Brücke über der Schnellstraße! Und ihre Verabredung unter der Linde! Sie hatte ihn gesucht. Nur ihretwegen hatte er dieses Wohnzimmer erst eingerichtet. Er hatte doch hier auf sie warten wollen! Warum war er weggegangen? Wie hatte er das nur vergessen können?
Panik stieg in Jari auf. War Nele schon hier gewesen? Hatte sie vergeblich nach ihm gesucht, ihn gerufen?
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und er sah auf. Und erst jetzt merkte er, dass er sich mit aller Kraft an den Fensterrahmen klammerte, so fest, dass seine Fingernägel bereits Kerben ins Holz gegraben hatten.
»Kennst du sie?« Toras Stimme klang jetzt sehr ruhig.
Jari nickte. »Sie ist… so was wie meine Freundin«, murmelte er.
Tora nickte langsam. »Das ist gut. Sie ist nämlich der Schlüssel zu deiner Rettung, und wir sind auf ihre Mithilfe angewiesen. Sie ist eine Klarträumerin und besitzt damit eine Kraft, die wir Wächter nicht haben: Sie kann hierher, in die Unendlichkeit kommen und dich vor allem auch mit hinausnehmen.« Sie lächelte schmal. »Jetzt, wo ich dich gefunden habe, wird meine Göttin so bald wie möglich mit ihr sprechen. Fae wird Nele zeigen, wie sie zu dir gelangen– und vor allem, wie sie dich hier rausholen kann.«
Jari zwang seine Finger, sich vom Fensterrahmen zu lösen. Nele. Nele würde herkommen. Dann war es doch noch nicht zu spät!
»Sie hilft uns auf jeden Fall«, stieß er aufgeregt hervor. »Sie war sogar schon hier! Wahrscheinlich wusste sie nur nicht, was sie tun sollte.«
Toras Augen weiteten sich. »Sie war hier? Ganz allein? Das kann nicht sein. Unmöglich.«
Jari runzelte die Stirn. »Doch«, widersprach er. »Gut, ich habe sie nicht gesehen. Aber ich habe sie deutlich gehört. Sie hat nach mir gerufen, als ich kurz davor war, einzuschlafen. Aber als ich die Augen geöffnet habe, war sie weg. Nur dieses Nachtglas war noch da. Vielleicht war sie ganz nah, nur auf der anderen Seite? Kann das sein?«
»Dazu müsste sie in deinem Traum gewesen sein.« Toras Gesicht hatte sich während seiner Erklärung immer mehr verfinstert. Jari konnte förmlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Und wie sie zu einem Schluss kam.
»Gut, dass du mir das erzählt hast. Ich fürchte, das ist sehr wichtig.« Sie seufzte schwer und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich gehe jetzt zu Fae. Du wartest hier. Und keine Träume mehr, bis ich zurückkomme, verstanden?« Sie sah Jari eindringlich an.
Jari nickte. In diesem Moment hätte er Tora alles versprochen. »Keine Träume mehr.«
Tora erwiderte sein Nicken. Ihre Miene war noch immer sehr ernst. »Dann bis später. Ich beeile mich, du hast mein Wort.«
Damit wandte sie sich ab und öffnete die Tür, die nach draußen in den Sturm unter dem Nachtglas führte. Sekundenlang drang Windgeheul und das Krachen brechender Äste zu Jari herein. Dann schlug die Tür wieder zu und Tora war fort.
Jari kehrte zu seinem Sessel zurück und ließ sich schwer hineinfallen. Sein Kopf dröhnte und brummte vor lauter Anstrengung, das eben erlebte und gehörte zu verarbeiten. Und immer wieder kehrten seine Gedanken zu einem ganz bestimmten Punkt zurück. Nele würde herkommen. Hierher! Zu ihm, wie er es von Anfang an gehofft hatte! Aber konnte er denn wirklich nichts tun, um selbst mit ihr Kontakt aufzunehmen? Musste er ganz auf Toras Erfolg vertrauen? Vermutlich schon, wenn er doch nichts mehr erschaffen durfte. Und das wagte er wirklich nicht– nicht mit dem Riss im Nachtglas vor Augen.
Trotzdem konnte er nicht aufhören, darüber nachzudenken. Konnte er nicht vielleicht etwas mit dem anfangen, das er schon hatte? Wenn er nur ein paar winzige Veränderungen vornahm? Immerhin war sie schon einmal so nah gewesen, dass er ihre Stimme hatte hören können. Dann konnte sie es doch wieder schaffen. Wenn er ihr nun eine Nachricht hinterließ… Jari stand auf. Es ließ ihm keine Ruhe. Er musste es versuchen, ob es nun gefährlich war oder nicht.
Und das würde er
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