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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Beer
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Schauspiel los und starrte Tora an. »Mein Werk?«
    Tora nickte grimmig. »Allerdings. Ich weiß ja nicht, was du dir für eine Erklärung zurechtgelegt hast, wo du hier bist und warum du deine Umgebung gestalten kannst, wie es dir gefällt, aber sie ist höchstwahrscheinlich falsch.« Sie räusperte sich. »Fakt ist, du befindest dich in der Traumwelt, und zwar sehr tief in der Traumwelt, weit jenseits deiner eigenen Träume– hinter einer Schicht, die wir das Nachtglas nennen. Das ist diese graue, zähflüssige Masse, die du da draußen siehst.«
    Jari konnte nicht anders, er musste wieder aus dem Fenster sehen. Das Nachtglas… Dann war das also gar kein Himmel? Aber was war es dann? Er musste nicht lange auf die Antwort warten.
    »Es trennt die Träume der Menschen von ihrer Realität«, erklärte Tora weiter. »Und zugleich ist es auch der Stoff, aus dem die Träume sind. Wann immer Träume geformt werden, leuchtet es silbern. Das dürftest du ja schon zur Genüge gesehen haben.«
    Langsam ließ Jari die Hand über die zitternde Fensterscheibe gleiten. Träume? Er formte Träume? Die Worte hallten dumpf in ihm nach. Es klang so simpel. So logisch. Er war nicht in sich selbst. Er war in seinen Träumen.
    »Was du hier siehst, sind aber nicht nur deine Träume«, widersprach Tora, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Obwohl er sie nicht noch einmal ansah, fühlte Jari ihren scharfen Blick auf sich ruhen. »Das hier ist die Unendlichkeit– der Ort, an dem die Träume aller Menschen Realität werden. Und das ist es, was deine ganze Traumformerei hier so gefährlich macht. Für dich selbst, aber vor allem für andere. Für die Traumwelt und die Menschenwelt gleichermaßen. Du musst nämlich wissen, dass Menschen für gewöhnlich nicht in diesen Teil der Traumwelt gelangen können. Das Nachtglas lässt sie nicht durch. Stattdessen stehen sie in ihren Traumkammern– das ist ein Teil des menschlichen Bewusstseins, der fest an ihren Körper gebunden ist, aber gleichzeitig direkt an das Nachtglas grenzt. Von dort aus sehen sie sich in den Spiegelungen des Nachtglases an, welche Träume sie gerade formen, während die Träume selbst nur in der Unendlichkeit real werden.« Jari konnte Toras ironisches Lächeln geradezu hören. »Stell es dir wie dieses moderne 3D-Kino vor, das ihr Menschen neuerdings so gernhabt. Gigantisch, aber harmlos. Und das bleibt es auch– es sei denn, ein Mensch gerät irgendwie auf die andere Seite und stört das Gleichgewicht. So wie du jetzt.«
    Nun drehte sich Jari doch wieder um. Toras Stimme hatte so düster geklungen, so unheilschwanger. Als hätte er die ganze Welt in den Abgrund gestürzt. Sein Werk, hatte sie gesagt. Er fröstelte unwillkürlich. »Also ist das Nachtglas meinetwegen gerissen.« Er konnte seine Stimme kaum zwingen, die Worte auszusprechen.
    Tora nickte finster. »Jedes Mal wenn du auf dieser Seite einen Traum formst, wird es empfindlich erschüttert. Dieser Riss da draußen ist das Ergebnis. Wir können froh sein, dass es noch nicht ganz zerbrochen ist. Begreifst du jetzt, warum du sofort damit aufhören solltest?«
    Jari antwortete nicht sofort. Ja, er begriff. Wenn schon ein Riss so viel Zerstörung in der Traumwelt anrichtete– dann wäre ein kompletter Bruch eine echte Katastrophe. Aber ihn persönlich beunruhigte auch noch etwas ganz anderes. Er traute sich kaum, zu fragen, weil ein Teil von ihm sich vor der Antwort fürchtete. Aber noch mehr fürchtete er sich davor, es nicht zu wissen. Er holte tief Luft.
    »Ja, ich verstehe. Aber du sagtest auch… Du sagtest, Träume zu formen, wäre gefährlich für mich. Warum?«
    Tora lehnte sich mit der Hüfte gegen die Fensterbank und betrachtete ihn erneut eine ganze Weile aus diesen glühenden Augen. »Weil du«, sagte sie schließlich, und nun klang ihre Stimme beinahe sanft, »mit jedem Traum, den du hier draußen formst, selbst etwas mehr zu einem Traum wirst. Und irgendwann gibt es dann für dich keinen Weg mehr zurück. Nie wieder.«
    Nie wieder. Bei ihren Worten zog sich Jaris Brust schmerzhaft zusammen. Nie. Wieder. Nie wieder zurückkehren in das schmutzige Loch, aus dem er gekommen war? Nie wieder die Straßen der Stadt sehen, in der er aufwuchs? Nie wieder Schule? Niemals ausbrechen aus alldem, wie er es immer geplant hatte? Niemals…?
    Da war etwas. Etwas, das er unbedingt hatte tun wollen. Es schnürte Jari die Luft ab, dass ihm fast die Tränen kamen. Aber er konnte sich nicht erinnern. Schon wieder.

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