Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
dir. Du kannst dich diesmal nicht verirren.«
Nele biss sich auf die Lippe. Wahrscheinlich hatte Tora recht. Aber ihrem Verstand das klarzumachen, war gar nicht so einfach.
»Siehst du, ich zünde dir ein Licht an.« Tora hielt eine kleine Laterne in die Höhe. Kurz darauf erstrahlte der Docht in hellem, funkelndem Licht und brachte das Spiegelglas zwischen ihnen zum Glühen. »Wenn du dich immer nur daran hältst, kann nichts schiefgehen.«
Irgendwie rang Nele sich ein Nicken ab, obwohl sie sich noch immer zittrig fühlte und ihr Puls raste. Das Labyrinth. Warum, um alles in der Welt, musste es ausgerechnet das Labyrinth sein? Aber wenn es keinen anderen Weg gab? Für Jari…
Tora musterte sie aufmerksam. »Also. Bist du bereit?«
Nele nickte, auch wenn das gelogen war. Bereiter als jetzt würde sie nicht werden, da half auch längeres Warten nichts, das wusste sie. Eher im Gegenteil. Je weniger Zeit sie hatte, sich auszumalen, wie es dort drin sein würde, desto besser.
»Gut.« Tora nickte. »Also, denk daran. Schau immer nur auf das Licht, sobald du das Labyrinth betreten hast. Sieh dich nicht um, und versuch nicht, dir den Weg zu merken. Und vor allem dreh dich nicht um. Nicht einmal, verstehst du?«
»Ja.« Es hatte fest und entschlossen klingen sollen. Aber Nele fürchtete, dass ihr vor Nervosität dünnes Stimmchen Tora davon nicht im Geringsten überzeugen würde.
Aber Tora sagte nichts dazu. Sie nickte nur noch einmal. Dann streckte sie die Hand aus und legte sie an das Glas. Unter ihren Fingerspitzen erzitterte die glatte Oberfläche, als wäre sie aus Wasser. Und dann war Tora verschwunden. Der Spiegel teilte sich wie ein breiter Wasserstrahl, in den ein Stock gehalten wurde, und gab den Blick auf eine glitzernde Welt frei.
In der Ferne leuchtete Toras Licht, golden und warm.
Neles Kehle war wie zugeschnürt, als sie durch den Rahmen kletterte. Noch immer wäre sie am liebsten auf dem Absatz umgekehrt und davongerannt. In diesem Augenblick wollte sie nur noch nach Hause. Zu ihrer Mutter, in ihr Bett, oder am besten beides. Aber sie biss die Zähne zusammen und zwang sich sogar, ihr Piercing in Ruhe zu lassen. Sie würde das jetzt durchziehen. Jari brauchte sie. Und der Rest der Welt vermutlich auch. Wenn sie jetzt kniff und das Nachtglas wirklich brach, würde sie vielleicht bald gar kein Zuhause mehr haben, in das sie zurückkehren konnte. Das flüssige Glas floss wieder zu einer glatten Fläche zusammen und verschwand schließlich ganz, genau wie der Spiegelrahmen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Es war lange her, dass Nele sich im Labyrinth verirrt hatte. Aber eine einzige Sekunde genügte, um sie wieder völlig in seinen Bann zu ziehen. Sie stand in einem engen Tunnel aus Spiegelglas mit nach oben hin spitz zusammenlaufenden Wänden. Nele sah sich selbst, unendlich oft reflektiert. Splitter aus bunt gemischten Traumbildern und Licht fielen wie zufällig immer wieder in neue Positionen und bildeten in den Spiegelwinkeln bunte Muster, wie in einem gigantischen Kaleidoskop. Dazwischen zweigten immer wieder Gänge in alle Richtungen ab, rechts, links, oben und unten; fast unsichtbar zwischen den Bildern, als seien sie ein Teil von ihnen. Und Nele erinnerte sich nun auch daran, dass hier die physikalischen Gesetze nicht galten. Dass sie einfach an der Wand emporlaufen konnte, die dann zu ihrem neuen Boden wurde. Wo oben war, änderte sich ständig, so wie mit jedem Schritt neue Traumfetzen zwischen die Mosaikbildchen fielen, sie durchrüttelten und neue Motive formten; jedes für sich so schön in seiner Absonderlichkeit, dass Nele die Tränen kamen. Und bereits jetzt hätte sie den Gang, aus dem sie gekommen war, niemals wiedergefunden. Das Licht! Wo war denn nur Toras Licht? Es hatte sich völlig zwischen den Abertausend anderen Lichtern und Bildern verloren. Panik stieg in Nele auf, und sie kniff die Augen zusammen, um wenigstens für einen Moment in die Dunkelheit zu fliehen. Ihre Knie waren weich wie Butter. Sie würde es nicht schaffen. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Wie sollte sie hier jemals wieder herausfinden?
Doch in diesem Moment sah sie es. Oder vielmehr spürte sie es: einen warmen Schein, der selbst durch ihre geschlossenen Lider drang, sanfter und stetiger als das Glitzern und Schillern des Kaleidoskops, wie eine ruhig brennende Flamme.
Toras Licht!
Das musste es sein. Ohne die Augen zu öffnen, wandte Nele das Gesicht in die Richtung, aus der das Licht kam;
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