Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Ob Seth es wusste?
Sie schüttelte den Gedanken an den Kater ab. Sie musste sich beeilen und einen Traum finden, in dem es einen Spiegel gab, an den sie klopfen konnte. Ob sie das nun wollte oder nicht.
Mit raschen Schritten eilte Nele den Flur entlang und warf nur schnelle Blicke durch die Fenster in den Türen, an denen sie vorbeikam. Svea, stellte sie dabei fest, träumte viel von alltäglichen Dingen. Nele sah ihre Schule, eine Gymnastikhalle mit Turngeräten und das Café Amaranth, in dem sie am Samstag zusammen gewesen waren. Alles schien ruhig und geordnet. Kein Wunder, dass Svea den Traum von Jari und der Ebene als so außergewöhnlich empfunden hatte. Nur sehr wenige der Szenarien überraschten Nele– wie zum Beispiel eine wilde Party, bevölkert von wie in Ekstase tanzenden Menschen unter zuckenden Lichtern. Doch auch an diesem Traum zwang sie sich, vorbeizugehen. Sie war nicht hier, um in Sveas Unterbewusstsein herumzustöbern.
Und dann endlich fand sie, was sie suchte. Eine kleine Kammer, kahl und ein wenig trist. An einer langen Stange hingen Turnanzüge und Trainingsjacken. Eine Garderobe, vermutete Nele, vielleicht von einem Balletttheater? Jedenfalls gab es dort drin einen Schminktisch– und einen großen Spiegel, der bis auf den Boden reichte. Neles Finger verkrampften sich um die Klinke. Sie hatte es geschafft. Wenn sie diese Tür durchschritt, war sie Jari schon ein großes Stück näher.
Entschlossen zog sie die Tür auf. Feuchte, ein wenig muffige Luft trieb ihr entgegen. Die Garderobe war leer, zum Glück. Behutsam schloss Nele die Tür hinter sich und versuchte, nicht nervös zu werden, als diese augenblicklich verschwand. Dass die Durchgänge sich auflösten, das war schon in Jaris Träumen so gewesen, rief sie sich in Erinnerung. Und sie wollte ja auch gar nicht zurück. Zumindest nicht jetzt.
Langsam, Schritt für Schritt, näherte sie sich dem Spiegel. Sie sollte dagegen klopfen, hatte Jari gesagt, dann würde Tora ihr helfen. Neles Herz schlug inzwischen so laut, dass sie das Gefühl hatte, es müsse in der gesamten Traumwelt zu hören sein– die Unendlichkeit eingeschlossen.
Dicht vor dem Glas blieb Nele schließlich stehen und hob zögernd die Hand. Durch eine dünne Staubschicht hindurch konnte sie sich selbst sehen: ihr bleiches, übernächtigtes Gesicht und den vor Nervosität verkniffenen Mund mit dem blutigen Piercing.
»Hier bin ich!«, flüsterte sie. »Ich bin da, wie ihr gesagt habt.«
Klopf an einen Spiegel.
Das Geräusch ihrer Knöchel auf dem Glas war dumpf und vibrierte nach, als hätte Nele auf ein dünnes Blech vor einem riesigen Hohlraum geschlagen. Sie schauderte. Aber zunächst einmal geschah nichts. Nur ein heller, glänzender Abdruck blieb im Staub zurück.
Dann aber begann sich das Glas plötzlich zu verändern. Es zitterte wie ein See, über den ein leichter Wind streicht. Und als es sich wieder glättete, war Neles Spiegelbild verschwunden. Stattdessen starrte sie in die Augen einer Katze. »Da bist du ja.«
Obwohl Nele damit gerechnet hatte, fuhr sie heftig zusammen. »Tora…«, stieß sie mit einem Seufzer hervor, als sie wieder atmen konnte.
Die Katzenfrau nickte. »Es ist gut, dich zu sehen«, sagte sie. Ihre Ohren zuckten. »Wir hatten schon befürchtet, du schaffst es nicht. Bist du bereit?«
»Klar«, sagte Nele schnell. Sie war sich überhaupt nicht sicher, ob sie bereit war. Aber sie wollte vor dieser Frau auf gar keinen Fall schwach oder ängstlich wirken, auch wenn sie selbst nicht genau wusste, warum.
Tora nickte knapp. »Sehr gut. Dann mach dich am besten gleich auf den Weg.« Sie lächelte fast unmerklich. »Jari wartet schon.«
Nele spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. »In Ordnung«, brachte sie hervor. »Von mir aus kann’s losgehen.«
Tora nickte knapp. »Dann hör mir jetzt gut zu. Der Ort, den du jetzt betreten wirst, ist ein ganz besonderer– aber ich habe mir sagen lassen, das weißt du schon.«
Nele nickte schwach. Ihre Hände waren inzwischen klitschnass vor Schweiß. »Du meinst das Spiegellabyrinth.«
Tora auf der anderen Seite des Spiegels neigte sich ein Stück vor, um Nele in die Augen sehen zu können. In ihrem Blick glomm Mitleid. »So ist es«, sagte sie ernst. »Jari hat mir erzählt, dass du schon einmal dort warst– und dass du ganz allein wieder herausgefunden hast. Das muss eine schreckliche Erfahrung gewesen sein. Aber wir haben keine Wahl, Mädchen. Es gibt keinen anderen Weg. Und ich helfe
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