Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
spürte, wie es kräftiger wurde und ihre Wimpern kitzelte. Erleichterung durchströmte sie. Es war noch da! Sie hatte es nicht verloren! Wenn sie nur nicht die Augen öffnete, konnte sie doch noch den Weg finden!
Tastend streckte sie die Hände vor sich aus und machte die ersten vorsichtigen Schritte in Richtung des Lichts, bis sie endlich das kühle Glas einer Wand unter den Fingerspitzen fühlte. Das Labyrinth funkelte selbst durch ihre geschlossenen Lider verführerisch und lockte sie mit aller Macht, doch wieder hinzuschauen. Sich aufzugeben im Tanz der Bilder und Farbspiele. Es wäre so leicht. Sie könnte für immer hierbleiben. Und sie müsste sich nie wieder um irgendetwas sorgen…
Nele kniff die Augen zusammen, so fest sie konnte, und schob sich weiter an der Wand entlang, immer dem Licht entgegen. Nein, sie würde nicht nachgeben. Wenn sie sich ganz auf ihre eigenen Schritte konzentrierte– klack, klack, klack auf dem Glasboden– und auf die Wärme des Lichts auf ihren Wangen, war es leichter, den Drang zu ignorieren und der Versuchung zu widerstehen.
Stunden, so schien es ihr, tastete sie sich im Schneckentempo vorwärts. Immer wieder stieß sie auf Abzweigungen, die sie in einen neuen Gang führten. Und jedes Mal hätte Nele am liebsten geblinzelt, um zu sehen, ob ihr Ziel nicht endlich in Sicht kam. Aber sie verbot es sich, genau wie den grässlichen Gedanken, der nach einer Weile in ihr aufkeimen wollte. Was, wenn gar nicht Seth der wahre Verräter war? Wenn es nun Tora war, die sie daran hindern wollte, mit Seths Hilfe Jari zu finden? Wenn das Video, das Nele gefunden hatte, eine Fälschung gewesen war? Eine Falle, die sie hierher locken sollte, damit Tora sie im Labyrinth aussetzen konnte, so tief, dass sie auf keinen Fall jemals den Rückweg finden würde?
Aber nein, das durfte sie nicht denken! Sie war ja längst viel zu weit gegangen. Wenn Tora sie wirklich hereinlegen wollte, dann war sie jetzt sowieso verloren, und das Licht war der einzige Anhaltspunkt, den sie hatte. Es würde ihr nichts helfen, in Panik zu verfallen. Sie musste einen klaren Kopf bewahren.
Aber diese Erkenntnis änderte rein gar nichts daran, dass Nele am ganzen Körper schwitzte, dass ihr übel war vor Angst, und dass ihre Knie irgendwann so sehr zitterten, dass sie glaubte, nicht einen Schritt mehr gehen zu können.
Aber sie schaffte es doch. Wieder und wieder und wieder setzte sie einen Fuß vor den anderen. Bis sie endlich, nach einer weiteren Ewigkeit, einen Luftzug auf dem erhitzten Gesicht spürte.
Luft! Das konnte doch nur bedeuten…!
Neles Lider waren inzwischen so verklebt, dass sie fast sicher war, sie gar nicht mehr heben zu können. Aber dann, als der Luftzug ihre Wangen ein zweites Mal streifte, stärker diesmal, und einen Geruch von Holz und feuchter Erde herantrug, gelang es ihr doch.
Und dort war er. Der Ausgang. Ein Spiegelrahmen, der exakt so aussah wie der, durch den sie das Labyrinth betreten hatte– nur dass sie sich diesmal von der Rückseite näherte. Tora wartete hinter dem Rahmen auf sie, die Laterne in der Hand, und lächelte ihr entgegen. Hinter ihr konnte Nele die Ebene mit dem Baum sehen, die sie aus Jaris Traumwelt kannte. Und dann… ja, dann konnte auch Jari jetzt endlich nicht mehr weit sein.
Zwölftes Kapitel
Seth war noch nicht ganz in Jaris Wohnung angekommen, als die Erde erneut unter dem Zittern des Nachtglases erbebte. Ein Klingen wie ein tiefer Glockenschlag drang von weit entfernt aus der Unendlichkeit herüber – und als Seth den Kopf hob, sah er mehrere Splitter aus dem Himmel brechen, jeder einzelne groß wie ein Haus, die noch im Fall in unzählige winzige Scherben zerbarsten. Wie ein Funkenregen fielen sie auf die Stadt herab, gefolgt von einer Flut aus ungeformten Silberträumen. Unmittelbar darauf hörte Seth ein paar Straßen weiter das Quietschen von Reifen auf Asphalt, aufgeregte Menschenstimmen kreischten. Tumult. Chaos. Seth lächelte grimmig. Das passte zu seiner Stimmung. Sollte die Welt der Menschen doch in Trümmer fallen, er würde nichts tun, um es aufzuhalten. Gar nichts. Die Welt war ihm gleich. Denn er würde sich jetzt Nele zurückholen.
Die Treppe hinauf zur Wohnung von Jaris Eltern nahm er in großen Sätzen. Er fühlte sich sehr viel stärker, seit das Nachtglas gerissen war, kräftiger und beweglicher noch als zuvor, als kämen seine kätzischen Fähigkeiten nun auch in seinem Menschenkörper stärker zur Geltung. Seth nahm sich nicht einmal
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