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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Beer
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die Zeit, den Wohnungsschlüssel herauszuholen. Er drückte die Tür einfach nach innen. Sie gab ganz leicht nach.
    Doch als sie gegen die Wand schlug, blieb Seth zunächst einmal verwundert auf der Schwelle stehen.
    Die Wohnung war verändert – sauber und hell statt versifft und stinkend. Und nicht nur das, die Einrichtung sah richtig neu aus, als sei es noch gar nicht so lange her, dass die Familie hier eingezogen war. Seth erkannte sofort, woran es lag. In den Ecken schimmerte noch das Silberlicht der Träume, die hier ihre Form gefunden hatten. Jaris Träume.
    Eine Stimme, geisterhaft und tonlos wie ein Windhauch, schwebte durch den Flur.
    Leise, leise
    Leucht’ das Licht
    Erhellt die Nacht mit warmem Schein …
    Eine Gänsehaut kroch über Seths Arme. Hätte er noch seine Katzenohren gehabt, sie hätten nervös hin und her gezuckt. Die Stimme war nicht menschlich! Und er hörte noch etwas. Das Knurren eines großen Tieres im Schlaf.
    Seth schüttelte sich, um das Frösteln loszuwerden. Das waren Jaris Eltern, kein Zweifel. Aber ebenso zweifellos waren sie nicht mehr die Menschen, die sie zuvor gewesen waren. Ein Geist und ein Monster? Das klang gar nicht so abwegig, nach allem, was Seth über sie wusste. Nachdem er in Jaris Körper erwacht war, war er nur einmal kurz mit ihnen aneinandergeraten, und das hatte ihm wahrlich gereicht. Die Schramme auf seiner Stirn war noch immer nicht ganz verheilt.
    Aber diesmal hatten sie ihn offenbar nicht bemerkt, obwohl er so brachial in die Wohnung eingedrungen war. Gut so. Er konnte sich keine Verzögerung erlauben, wenn er Nele rechtzeitig finden wollte. Rasch huschte er über den Flur in Jaris Zimmer. Interessanterweise war dort alles unverändert. Aber Seth war das nur recht. Ebenso war es sein Glück, dass Jari so gewissenhafte Ordnung in seinem kleinen Reich hielt. Die Liste mit den Adressen seiner Schulkameraden hing, genau wie Seth es in Erinnerung gehabt hatte, gut sichtbar über dem Schreibtisch. Und herauszusuchen, wo Charlotte, Aylin und Svea wohnten, war damit nur noch ein Kinderspiel.
    Ein Lächeln glitt über Seths Züge, als er den Zettel zusammenfaltete und in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Keins der Mädchen lebte weit von der Schule entfernt. Schlecht für sie. Gut für ihn. Er würde Nele im Handumdrehen gefunden haben.
    Tatsächlich war es noch viel einfacher, als er gedacht hatte. Schon als er in die Straße einbog, in der Charlottes Haus stand, konnte er Nele riechen. Es war nur ein feiner Duft, und Seths Nase war nie überragend gut gewesen. Aber er hätte diesen Geruch unter tausend anderen wiedererkannt. Er konnte beinahe sehen, wie die Duftmoleküle – einer farblosen Spur gleich – eine Linie in die dicke, schwülwarme Luft bis hin zu einem weit geöffneten Fenster zeichneten. Auch die anderen Mädchen konnte er nun riechen. Sie waren dort drin. In diesem Haus. Alle vier.
    Seth sah sich um. Bestimmt hatte die kluge Nele damit gerechnet, dass er sie irgendwann aufspüren würde. Und ganz bestimmt hatten sie deshalb alle Türen abgeschlossen, damit er nicht einfach so hereinspazieren konnte. Eine Haustür wie diese würde ihm sicher deutlich mehr Widerstand leisten als das dünne Holz mit dem maroden Schloss vor Jaris Wohnung. Möglich, dass er keine Chance gegen sie hatte. Aber das brauchte er wahrscheinlich gar nicht erst auszutesten. Denn Nele und ihre Freundinnen waren vielleicht schlau – aber nicht schlau genug, auch das Fenster zu verschließen. Seth lächelte in sich hinein. Glaubten sie etwa, in Sicherheit zu sein, weil sie sich im ersten Stock befanden? Wenigstens Nele hätte es besser wissen müssen. Das Haus besaß einen kleinen Vorgarten, und nicht weit von der Hauswand entfernt wuchs eine junge Linde. Zu klein und zu weit entfernt, um von ihren Ästen aus das Fenster zu erreichen. Aber er konnte mit ihrer Hilfe auf das Dach klettern. Seth lächelte und streifte Schuhe und Strümpfe von den Füßen. Fast zu einfach.
    Flink erklomm er den rauen Stamm und balancierte auf den oberen Ästen vorwärts, so weit er es wagte, ohne dass sie unter seinem Gewicht brachen. Sie brachten ihn bis gut eineinhalb Meter in die Nähe des Hauses. Nicht einmal eine kleine Herausforderung, dachte Seth zufrieden. Dann sprang er.
    Die glatten Dachpfannen ächzten, als er aufkam und sich mit den Fingern in die Zwischenräume krallte. Seth verlagerte das Gewicht und presste den Bauch fest gegen den schrägen Untergrund, um nicht den Halt zu

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