Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
seines Vaters die gespielte Freundlichkeit endgültig verlosch. Wie die Maske, die er sich aufgesetzt hatte, bröckelte und sein wahres Gesicht zum Vorschein kam, das noch so viel hässlicher war.
In diesem Augenblick regte sich Jaris Mutter hinter ihm, kämpfte sich in eine halb sitzende Position, die Stimme noch schwer von Schlaf und Alkohol.
»Andreas? Was… nein…«
Jari sah, wie der Blick seines Vaters sich auf sie richtete. Wie seine glitzernden Schweinsäuglein für einen Moment ihre Aufmerksamkeit von Jari nahmen. Seine Chance. Vielleicht die einzige, die er an diesem Abend bekommen würde. Und Jari tat etwas, das er nie zuvor getan hatte:
Er ballte die Faust und schlug zu.
Er schlug seinen Vater auf den Wangenknochen, mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. Unter seinen Knöcheln spürte er rissige Haut aufspringen, und für einen Augenblick fühlte er grässliche Befriedigung in sich aufsteigen, eine Befriedigung, die scharf im Rachen brannte und ihm zugleich Tränen der Erleichterung in die Augen trieb. Er würde sich nicht prügeln lassen, er würde sich wehren, er würde…
Aber es kam nicht dazu.
Sein Vater schrie nicht. Brüllte nicht. Er gab keinen einzigen Laut von sich, war noch immer viel zu ruhig, abgesehen von einem seltsamen Laut, wie ein Grunzen, als er Jari packte. Seine riesigen Hände quetschten Jaris Oberarme zusammen und pressten sie hart zurück an seinen Oberkörper. Aber Jari spürte keinen Schmerz. Auch als er rücklings gegen die Schrankwand prallte, in der vor ein paar Tagen noch der Fernseher gestanden hatte, oder als sein Hinterkopf gegen die scharfe Holzkante schlug, tat es nicht weh. Sein Körper reagierte automatisch– er schaltete einfach ab. Er hörte seine Mutter kreischen und weinen und hätte sie so gern beruhigt, sie irgendwie getröstet. Aber er konnte sich nicht rühren, nicht einmal, als er ein zweites Mal gegen das Regal krachte. Blut sickerte in seinen Nacken, das spürte er noch. Aber sein Geist war längst auf dem Weg nach innen. Dorthin, wo es keine Schmerzen gab. Der leere Raum. Dort würde ihn niemals jemand finden.
Aber etwas stimmte nicht.
Jari wusste es sofort. Es war, als würde er über eine Schwelle treten, hinter der es keinen Boden gab, oder eine Stufe, die er nicht erwartet hatte. Wie ein Stolpern, ein unaufhaltsamer Fall in Zeitlupe. Für einen Moment glaubte er, ein Paar funkelnde goldene Augen aufleuchten zu sehen, und eine schattenhafte Silhouette hinter silbergrauen Schleiern in der Ferne. Ein stummer Hilfeschrei brannte in seiner Kehle.
Dann verlor er den Halt und alles wurde schwarz.
Viertes Kapitel
Seths Hand glitt durch silberfarbenes Haar. Weich und seidig schmiegte es sich an seine Finger wie ein zartes Streicheln. Darunter spürte er glatte Haut, kühl und makellos wie Glas, die erschauerte, als er sie berührte.
Seth schnurrte. Ein wahres Fest für seine sensiblen Sinne. Und genau die richtige Ablenkung von der Wut, die seit der vergangenen Nacht in ihm brodelte. Die letzten Stunden waren ein Tiefschlag nach dem nächsten für ihn gewesen. Zuerst Neles Zurückweisung, die mehr an ihm nagte, als er sich selbst eingestehen wollte. Und dann auch noch dieser Junge auf der Brücke – das war zu viel! Seth hatte die beiden beobachtet. Er hatte gesehen, wie sie sich küssten. Warum durfte diese zerzauste Vogelscheuche Nele nahe sein, Seth aber nicht? Oh, er hasste diesen hässlichen Menschen, er verabscheute ihn mit einer Leidenschaft, die ihn verbrennen würde, wenn er ihr nicht sofort ein Ventil verschaffte.
Zum Glück hatte Seth es noch nie schwer gehabt, Gespielinnen zu finden, die sich nach seiner Leidenschaft sehnten, und sei es nur für eine Nacht. Wie auch diese hier.
Er näherte sein Gesicht dem der jungen Frau unter ihm, ließ seinen Atem über die geschlossenen Lider streifen, über die alabasterweißen Wangen bis zu ihrem Ohr, während seine zweite Hand zart ihren Hals hinabwanderte.
»Gefällt dir das?«
Die Lippen der Frau öffneten sich und ließen den mühsam ruhig gehaltenen Atem ein wenig zu schnell hinausströmen. Die einzige Antwort, die er erhielt.
Seth lächelte träge und rieb seine Wange flüchtig an ihrer. »Ich weiß«, flüsterte er.
Der Atem stockte einen Moment. Die Frau drehte eine Winzigkeit den Kopf und öffnete die Augen. Seth konnte ihre Wimpern seine Haut kitzeln spüren.
»Seth …«
Da war Sorge in ihrer Stimme. Leise, aber unüberhörbar. Seth hielt inne, verharrte reglos, noch immer
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