Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
so dicht bei ihr, dass er ihren feinen, kühlen Duft riechen konnte.
»Was, Kätzchen?«
»Die Nacht ist längst angebrochen. Sollten wir nicht …« Sie schluckte mühsam. »Die Wacht …«
Seth lachte leise, ein dunkel vibrierender Ton tief in seiner Brust. Sanft vergrub er seine Zähne in ihrem Hals, um kurz darauf spielerisch darüber zu lecken, als könne er so den angerichteten Schaden wiedergutmachen. Ein erstickter Laut rutschte über die Lippen der Frau.
Seth zog sich ein Stück von ihr zurück, gerade weit genug, um ihr ins Gesicht sehen zu können, während er noch immer über ihr hockte, sodass sie seine Knie rechts und links ihrer Hüften spüren konnte.
»Kätzchen, wie viele Jahre hältst du jetzt schon Wacht?«
Sie schluckte und sah aus funkelnd grünen Augen zu ihm auf. Meeresaugen. In ihrer Tiefe glaubte Seth beinahe, die glitzernden Fische aus Neles Traum zu sehen, die er nicht hatte fangen können.
Er schüttelte den Gedanken ab, ehe er als unwilliges Knurren seine Kehle hinaufsteigen konnte.
»Drei«, wisperte die Frau.
Ein Lächeln breitete sich auf Seths Gesicht aus. So jung noch. Sogar noch viel jünger als er. »Dein erstes Leben?«
Die Frau nickte unsicher.
»Verstehe.« Er ließ seine Fingerknöchel über ihre Wange gleiten. »Und wie oft hast du gesehen, dass sich jemand hinter dem Glas verirrt hätte?«
Er sah sie noch einmal schlucken. »Noch nie.« Ihre Stimme war nun fast tonlos.
»Siehst du.« Seth hauchte ihr einen Kuss auf die glatte Stirn. »Ich wache seit fast fünfundzwanzig Jahren, zwei davon im zweiten Leben. Und ich habe es auch noch nie gesehen.« Er verharrte mit seinen Lippen so dicht über ihren, dass sie sich fast berührten. Fast.
Ihr zittriger Atem streifte seinen. Sie wollte ihn. Er wusste es. Aber noch ließ er sie leiden, zog sich ein wenig zurück, als sie das Kinn hob, um ihm endlich zu begegnen.
»Vertraust du mir?«, flüsterte er.
Die Meeresaugen schlossen sich. »Ich vertraue dir.«
Seth lächelte und legte seine Hände sanft um ihr Gesicht. Dann erlöste er sie.
Sie würde schon noch lernen, dachte er spöttisch, während er ihre Zweifel und ihren Widerstand unter seinen Fingern endgültig verlöschen fühlte, dass man einem Kater, der spielen wollte, niemals vertrauen durfte. Aber nicht jetzt. Nicht in diesem Augenblick, als eine Erschütterung durch das Nachtglas lief, der Hilfeschrei eines Menschenjungen in größter Not – und Seth entschied, dass es ihm gleichgültig war.
Jari stürzte. Er fiel durch unendliche Dunkelheit, durch einen Schacht aus Schmerz, der dumpf glühte wie rotes Licht hinter schwarzem Glas. Die Schreie seiner Mutter waren zu entferntem Rauschen verschwommen, wie das Pfeifen von Wind in seinen Ohren. Der Fall war endlos. Zeitlos.
Als er endlich auf einem knochenharten Boden aufprallte, spürte er es kaum. Auch nicht, wie er sich mehrfach überschlug und schließlich mit taubem Körper liegen blieb. Sein Herzschlag dröhnte laut in der Schwärze, die ihn umgab– bis er die Augen aufschlug und erkannte, dass die Schwärze gar nicht schwarz war.
Um ihn herum herrschte ein diffuses Licht, das sich weit über ihm in der Dunkelheit verlor. Er lag neben einer Wand aus dickem Glas. Große Tropfen rannen daran herab, wie Regen an einer Fensterscheibe, und hinterließen glänzende Spuren. Von dort, von der anderen Seite, kam das Licht. Und in dem Licht bewegte sich etwas. Aber er konnte nicht erkennen, was es war. Auch zu hören war nichts, nicht der kleinste Laut, abgesehenvon dem entfernten Rauschen, das allmählich verklang.
Vorsichtig stand Jari auf und stellte erleichtert fest, dass er sich normal bewegen konnte. Wo Schmerzen hätten sein sollen, war nur eine eigenartige Leere, als wäre er ganz hohl, wie eine Puppe.
Die Bewegungen hinter dem Glas waren nun deutlicher zu sehen. Es waren zwei Personen, eine größere und eine kleinere. Jari trat noch einen Schritt näher, bis er dicht vor der Wand stand, und hob die Hand, um mit den Fingerspitzen das Glas zu berühren. Die Tropfen waren warm an seiner Haut und sie rochen nach Salz.
Tränen, dachte er unwillkürlich und spürte, wie allein das Wort eine dumpfe Traurigkeit in seiner Brust hinterließ, die dennoch die Leere nicht zu füllen vermochte.
Je länger er auf die schemenhaften Gestalten hinter der Scheibe starrte, desto besser konnte Jari sie erkennen. Sie stritten, daran gab es keinen Zweifel, auch wenn er sie nach wie vor nicht hören konnte. Und obwohl
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