Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Problem in ein Drama verwandeln? Seth konnte sich einfach nicht vorstellen, dass das Nachtglas so leicht zu zerbrechen sein sollte. Er hob die Schultern. »Und wenn schon. Was wäre denn so schlimm an einer Welt ohne Nachtglas?«
Fae presste den Handballen gegen die Nasenwurzel, als hätte sie Kopfschmerzen. »Du verstehst es wirklich nicht, oder?« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Die Menschen stehen unter unserem Schutz, Seth! Wir als Wächter sind dafür zuständig, dass sie jeden Morgen den Weg aus ihren Träumen zurück in ihr eigenes Leben finden. Wenn aber das Nachtglas fort ist, dann werden sie niemals wieder aufwachen! Sie werden bis in alle Ewigkeit schlafen und die Traumwelt mit ihren Träumen füttern. Eine Welt, in der nur noch Katzen und Klarträumer bei Bewusstsein sind. Das können und dürfen wir nicht verantworten, begreifst du das denn nicht?«
Seth runzelte die Stirn, um das Lächeln zu verbergen, das sich bei Faes Worten auf sein Gesicht stehlen wollte. Eine Welt nur mit Katzen und Klarträumern, ohne das Nachtglas und vor allem ohne diese lästige Wacht nachtein, nachtaus – in seinen Ohren klang das geradezu paradiesisch.
Aber Fae sah das anders. Und Seth war klug genug, sie nicht ausgerechnet jetzt noch weiter zu provozieren. Darum senkte er, scheinbar beschämt, den Kopf. »Und was hast du jetzt vor?«
Fae funkelte ihn schneidend an und holte ein wenig angestrengt Luft. »Zuallererst, Seth – wirst du gehen.«
Seth zuckte heftig zusammen. Nein! Er musste sich verhört haben. Sie verstieß ihn wirklich? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!
Faes Hand lag auf seiner Brust, federleicht trotz ihres eisigen Tonfalls. Seth fühlte die Kraft, die von ihr ausging, eine Kraft, die ihn innerhalb eines Wimpernschlags jedes einzelne seiner verbliebenen acht Leben kosten konnte. Er schauderte. »Aber …«, setzte er zum Protest an.
Doch Fae ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Es war dein eigener Fehler«, flüsterte sie. »Und ich habe dich oft genug gewarnt. Dieses Mal gibt es keine zweite Chance.« Auch ihre andere Hand lag nun auf seiner Brust. »Du bist zu weit gegangen, und du weigerst dich, zu lernen. Solange du so eine Gefahr für das Nachtglas bist, gibt es hier keinen Platz mehr für dich.«
Ein Ziehen und Drängen prickelte in Seths Körper, ein bittersüßer Schmerz, als er spürte, wie er aus dem Refugium der Wächter hinausgedrängt wurde, ehe er auch nur die Chance hatte, noch etwas zu sagen oder zu tun. Seine Gedanken zerfaserten. Sein Mund wollte sich öffnen, um ein letztes Wort zu sagen – da merkte er, dass er bereits kein Gesicht mehr hatte. Er schwand, und ihm blieb nicht einmal Zeit, in Panik zu verfallen.
»Leb wohl, Seth …«
Im letzten Augenblick, ehe er sich völlig auflöste, fühlte er noch Faes warme Lippen auf seinen, die dort ein Abschiedsgeschenk hinterließen. Ein winziges Licht, das seinen Geist beisammenhalten würde.
Dann war die Glashalle fort, und er fiel. Hinab in die traumleere Dunkelheit.
Schon als Nele noch vor der Haustür stand und in den Tiefen ihres Rucksacks nach dem Schlüssel suchte, hörte sie von drinnen das Telefon klingeln. Hastig zerrte sie den Schlüssel hervor, fummelte ihn ins Schloss und hetzte ins Wohnzimmer, ohne die Schuhe auszuziehen, obwohl sie von dem feuchtkalten Frühlingsnieselregen draußen nass und dreckig waren. Vielleicht war es Paps!
Nele riss den Hörer ans Ohr. »Martens?«
»Nele!«
»Oh, Lilly!«
Beim Klang ihrer Stimme fiel ein ganzes Gebirge von Neles Herzen. Ihr war, als sei ihr erst in diesem Moment richtig bewusst geworden, wie sehr die Freundin ihr gefehlt hatte. Und heute ganz besonders.
»Warum hast du denn dein Handy aus, ich hab ewig versucht, dich zu erreichen!« Lilly klang mindestens ebenso aufgewühlt, wie Nele sich fühlte.
»Mein Handy…« Mühsam sammelte Nele ihre Worte zusammen. »Ich wusste nicht, dass es aus ist. Der Akku muss tot sein.«
Lilly am anderen Ende der Leitung holte tief Luft. Dann stieß sie den Atem langsam wieder aus. »Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde«, sagte sie leise. »Ich hab’s einfach nicht geschafft. Waren die Nächte sehr schlimm?«
Nele antwortete nicht sofort. Die Nächte. Ach ja. Seth. Den hatte sie über ihrer Sorge um Jari ganz vergessen. Jetzt schien es ihr geradezu banal, sich so viele Gedanken um ihn gemacht zu haben. Langsam ging Nele zum Sofa und ließ sich in die Polster fallen. Dann schnürte sie ihre Schuhe auf und trat sie unter
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