Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
deutlicher zu sehen waren. Auch ihre Bewegung hatte sich verstärkt, sie waberten und verformten sich und zogen über den düsteren Himmel wie die Hyphen eines Schleimpilzes. Links von Jari, einige hundert Meter abseits seines Weges zum Baum, tropften die Schlieren sogar herunter und zogen sich in langen Fäden bis zur Ebene.
Fasziniert blieb Jari stehen, um das Schauspiel zu beobachten. Dort, wo die Schleimfäden die Ebene berührten, verdampften sie in milchig grauen Wolken, die sich allmählich wie flüchtiger Bodennebel weiter und weiter ausbreiteten. Die ersten hellen Fetzen waren bereits bis zu ihm vorgedrungen und glitten kühl an seinen Beinen vorbei. Und während Jari ihnen noch zusah, wie sie kleine Wirbel an seinen Schuhspitzen bildeten, ehe sie dann leicht an ihm vorbeitrieben, fiel ihm noch eine Veränderung auf.
Erstaunt ging er in die Hocke, um besser sehen zu können. Er täuschte sich doch nicht? Nein. Die wogende Steppe wurde hier abrupt abgelöst von einer feuchten Wiese, wo kurze grüne Halme sich durch eine dicke Moosschicht kämpften. Aber das war nicht das Einzige, was sich wandelte.
Langsam richtete Jari sich wieder auf. Das Leuchten der tropfenden Himmelsschlieren verblasste allmählich. Stattdessen konnte er verschwommen einige vage Umrisse im Silbernebel erkennen, der sich ebenfalls lichtete. Aber was war denn das? Jari warf einen Blick auf den Baum, der sich unbeirrt in den Himmel reckte. Er würde auch gleich noch da sein. Er konnte sich wohl erlauben, die Umrisse dort hinten einmal genauer in Augenschein zu nehmen.
Es dauerte nur wenige Schritte, bis die Wiese das wogende Gras endgültig verdrängt hatte. Das Moos machte leise glucksende Geräusche unter Jaris Füßen. Die Schleier am Boden hatten sich inzwischen fast vollständig aufgelöst, und er kam rasch voran. Doch erst als er bis auf wenige Meter herangekommen war, erkannte Jari, was er da wirklich vor sich hatte.
Einen Spielplatz.
Jari blieb stehen. Vor Aufregung schlug sein Herz einen schnelleren Takt an. Das war nicht irgendein Spielplatz. Es war sein Spielplatz, in seiner Straße. Dort war das Klettergerüst, auf dem er mit Nele gesessen und Pommes gegessen hatte. Und die Sandgrube nicht weit davon entfernt. Der Spielplatz am Ostbahnhof, ganz in der Nähe seiner Wohnung. Fast hätte Jari vor Erleichterung gelacht. Dann wusste er jetzt, wo er war! Er schloss die Hand fest um eine Stange des Klettergerüstes. Kaltes Metall unter abblätterndem Lack, das sich unendlich vertraut unter seinen Fingern anfühlte. Er hatte als Kind so viel Zeit auf diesem Platz verbracht– so wie alle Kinder seiner Nachbarschaft. Damals war er noch kein Außenseiter gewesen. Das war erst in der Schule gekommen. Warum eigentlich? Wann hatte er angefangen, sich von allen abzuschotten, und wieso…?
Auch jetzt waren Kinder hier, turnten auf den Schaukeln herum und gruben tiefe Löcher in den Sand. Schatzsuche. Ganz wie Jari es früher mit seinen besten Freunden Svea und Jonas gespielt hatte. Sie waren ein unzertrennliches Team gewesen, ehe Jonas weggezogen war. Fast jeden Nachmittag hatten sie sich auf dem Spielplatz getroffen. Und tatsächlich sah einer der beiden Jungs dort im Sandkasten Jonas verblüffend ähnlich. Jari konnte ihn nur von hinten sehen. Und trotzdem… Erstaunt trat er einen Schritt näher– als plötzlich hinter ihm, auf der Schaukel, ein Mädchen einen schrillen Schrei ausstieß. Jari fuhr herum. Die Kleine war von der Schaukel gesprungen und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf ihn.
Mit offenem Mund starrte Jari sie an. Svea! Das war Svea, wie er sie früher gekannt hatte! Jari hob die Hände, um sie zu beruhigen, wollte sich ihr nähern. Aber es half nichts. Sie hörte einfach nicht auf zu schreien und ihn aus wilden Augen anzustarren. Ein Schrei voller Angst– und Wut.
Auch die anderen Kinder hatten ihr Spiel nun unterbrochen und drehten sich um, rissen die Augen und Münder auf und starrten, während Svea weiter schrie. Unwillkürlich wich Jari ein Stück vor ihnen zurück. Er wollte etwas sagen, rufen, dass sie keine Angst vor ihm haben mussten. Aber seine Worte gingen einfach unter, noch ehe er sie selbst hören konnte. Sveas hohe Stimme schluckte alle anderen Geräusche, schallte weit über das Grasland in alle Himmelsrichtungen. Und erst jetzt wurde Jari wirklich klar, dass der Ostbahnhof, dessen verwitterte Backsteinmauern doch nur einen Katzensprung vom Spielplatz entfernt standen, sich keineswegs in seiner
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