Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
beeindruckende Silhouette vor hellerem Grund. Und alles war still. Nichts und niemand schien hier zu sein. Trotzdem zögerte Jari, den ersten Schritt auf die weite Fläche hinauszutun. Sie kam ihm seltsam vertraut vor, obwohl er sie doch noch nie gesehen haben konnte. Oder hatte er auf seinen Reisen in den leeren Raum einmal so eine Ebene besucht? Gut möglich. Aber das erklärte auch nicht, warum mit dem Gefühl des Erkennens eine Ahnung von Gefahr einherging.
Jari wusste nicht, wie lange er dort stand, unschlüssig, was er nun tun sollte. Er hatte zwar noch immer das dringende Gefühl, dass er so bald wie möglich Nele treffen musste. Es war wichtig, sehr wichtig sogar. Das spürte er deutlich, wie einen glühenden Ball, der tief in seiner Brust festsaß. Aber so, wie die Dinge lagen, war es ungleich schwieriger, die Schule zu finden– und mit ihr den Treffpunkt unter der Linde. Ob es überhaupt möglich war, diesen Ort von hier aus zu erreichen? Die Ebene machte, soweit Jari das von seinem Standpunkt sehen konnte, nicht den Eindruck, als würde sie überhaupt irgendwo enden.
Schließlich entschied er sich dazu, erst einmal zu dem Baum am Horizont zu gehen. Das war immerhin ein Punkt, nach dem er sich richten konnte, damit er nicht die ganze Zeit im Kreis lief. Vielleicht konnte er sogar in die Krone klettern und von dort aus besser überblicken, welche Möglichkeiten ihm noch offenstanden. Und während der Wanderung würde ihm ja vielleicht auch noch irgendeine sinnvollere Lösung einfallen, als einfach stumpf geradeaus zu laufen. Also atmete Jari tief durch und trat auf die Ebene hinaus.
Als er den ersten Fuß zwischen die langen Grashalme setzte, überkam ihn wie eine Brandungswelle das Gefühl, die schmutzigen Farben der Umgebung würden auf seiner Haut kribbeln– als würden sie mit winzigen Käferbeinen über ihn hinwegkrabbeln. Und als Jari an sich herabsah, erkannte er, dass er tatsächlich über und über mit den verblichenen Tönen überzogen war. Im gleichen Augenblick ertönte ein singender Klang, wie große Weingläser, die in einem Schrank gegeneinander klirrten. Jari zuckte zusammen und erstarrte mitten in der Bewegung. Der Ton schwebte hoch über ihm in der Luft und schien sich über die gesamte Weite des Himmels zu ziehen. Und als Jari den Kopf hob, glaubte er, die formlosen Schemen im Silbergrau erzittern zu sehen. Auch er selbst spürte bei dem Anblick eine sanfte Vibration seine Wirbelsäule entlangrinnen, und ihn überkam das beklemmende Gefühl, als hätte allein sein Auftreten auf dem federnden Grund der Ebene all das ausgelöst.
Etliche Sekunden blieb er stehen. Wartete. Lauschte. Doch nichts geschah, und auch als er es endlich wagte, einen zweiten Schritt nach vorn zu gehen und endgültig aus dem Schatten der Kastenbauten zu treten, blieb es still. Nur das Wispern des Grases im Wind, der nun sanft über Jaris Wangen strich und an seinen Haaren zupfte, war noch zu hören.
Langsam ging Jari weiter. Das Klingen wiederholte sich auch bei seinen folgenden Schritten nicht, trotzdem vermied er es, zu fest aufzutreten. Während er zögernd voranschritt, versuchte er, den Blick auf den Baum gerichtet zu halten. Doch seine Augen wanderten wie von selbst unruhig über die weite Fläche, suchten wachsam nach Unregelmäßigkeiten im wogenden Grasmeer, nach Hinweisen, woher dieses stetige Gefühl der Bedrohung kam, das ihm noch immer im Nacken saß– seit der eigentümliche Ton erklungen war, noch deutlicher als zuvor. Aber alles blieb still. Und nichts geschah.
Jari wanderte lange, zumindest kam es ihm so vor. Sein einziger Anhaltspunkt dafür, wie viel Zeit inzwischen vergangen sein mochte, war der Baum in der Ferne, der allmählich geradezu gigantische Ausmaße annahm, wie einer der Mammutbäume, die Jari einmal im Erdkundeunterricht in einer Dokumentation über die Sierra Nevada gesehen hatte. Und nun erinnerte er sich auch. Noch während des Unterrichts hatte er sich fortgeträumt in die endlose Weite einer Steppe, mit nur einem einzigen Baum am Horizont. Aber damals war der Himmel blau gewesen, da war Jari sich ganz sicher.
Nach einer ganzen Weile bemerkte er schließlich, dass seine Umgebung sich ein weiteres Mal zu verändern begann. Diesmal allerdings nicht abrupt, sondern schleichend, sodass es ihm erst sehr spät wirklich auffiel. Der Himmel über ihm war noch dunkler geworden und färbte sich in einem finsteren Rußschwarz, vor dem die silbrigen Schlieren und Umrisse immer
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