Wenn Die Seele Verletzt Ist
wird.
Das Lebensalter eines Menschen spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Für Säuglinge können Situationen traumatisch sein, die ältere Kinder allenfalls als belastend empfinden. Einen Sonderfall stellen Traumata dar, die durch Krankenhausaufenthalte im Säuglings- oder Kleinkindalter entstehen. Schon allein der medizinische Eingriff reicht aus, um ein Kleinkind oder einen Säugling zu traumatisieren. Doch damit nicht genug, verbot man den Eltern bis in die achtziger Jahre, ihre Kinder in der Klinik zu besuchen, so daß sie oft wochenlang von ihnen getrennt waren. Theodor Hellbrügge, Professor für Sozialpädiatrie (Kindersoziologie) an der Universität München, schreibt, daß ein politischer Beschluß des Münchner Stadtrates nötig war, um die sich heftig sträubenden Chefärzte der Kinderkliniken dazu zu zwingen, ihre Kinderstationen für die Eltern zu öffnen (Heibrügge, S. 40). Alle von solchen Trennungserlebnissen betroffenen Kinder erlitten ein Verlassenheitstrauma. Ein solches Trauma wirkt sich später vor allem in den zwischenmenschlichen Beziehungen aus, wenn erwachsene Personen aus ihnen selbst unerklärlichen Gründen an Eifersucht und Verlassensängsten leiden.
Es ist leider auch heute noch nicht selbstverständlich, daß Kleinkinder von ihren Eltern im Krankenhaus unterstützt werden dürfen. Die Kombination von Schmerzen, überwältigenden Erlebnissen durch therapeutische Eingriffe und dem Gefühl, von den Eltern verlassen zu sein, ist für jedes Kind ein traumatisches Erlebnis. Der Hamburger Kinderpsychiater Riedesser schreibt darüber: „Diagnostische und therapeutische Überfälle auf unvorbereitete Kleinkinder, deren Eltern weggeschickt worden sind, gehören leider immer noch, wenn auch nicht mehr so häufig wie früher, zum Alltag der Kliniken“ (Riedesser in Hellbrügge, S. 165).
Man kann auch traumatisiert werden, ohne selbst Opfer einer unmittelbaren körperlichen Bedrohung zu sein, indem man zum Beispiel das Trauma anderer miterlebt. Diese Erfahrung machen vor allem Polizisten, Notärzte und Sanitäter bei schweren Verkehrsunfällen oder Naturkatastrophen. Im Unterschied dazu können Therapeuten und pflegerisch tätige Personen dadurch geschädigt werden, daß sie sich täglich mit den Traumata anderer Menschen befassen. Mit diesem Phänomen machte ich beim Schreiben dieses Buches und bei der Vorbereitung der Fortbildungskurse in unserem Institut reichlich Erfahrung. Mein Unbewußtes signalisierte mir durch heftige Alpträume, wann ich mit der psychischen Hygiene geschludert hatte und es Zeit wurde, eine längere „traumafreie“ Pause einzulegen.
Von dieser indirekten Traumatisierung sind auch die Kinder traumatisierter Eltern betroffen, die entweder versuchen, die psychischen Schädigungen ihrer Eltern, in die sie sich emphatisch einfühlen, auszugleichen, oder die unter der plötzlichen emotionalen Unsicherheit ihrer Schutzpersonen leiden. Oftmals entwickeln sie selbst Symptome. Die indirekte Traumatisierung von Kindern erforschte das Therapeutenteam um Daniel Schechter bei der Behandlung von Familien nach dem 11. September 2001 in New York (siehe „Auswirkungen von Traumata auf Beziehungen“).
Doch auch länger zurückliegende Traumata zum Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg können sich emotional auf Kinder übertragen. In unseren Semi-naren erleben wir, daß dieses Phänomen häufig übersehen wird. Glücklicherweise ist es viel leichter, sich von einem solchen übernommenen Trauma zu befreien als von einem selbst erworbenen. Wir erleben immer wieder, daß unsere Klienten diese Last, die sie unbewußt getragen haben, in einer einzigen Aufstellung ablegen und danach ein leichteres Leben führen. Die dramatischen Einzel- und Mehrfachereignisse werden im amerikanischen Sprachraum, aus dem die Traumaforschung ja stammt, „Big-T-Traumas“ genannt. Darunterfallen Erlebnisse, die durch Kriege, Gewaltverbrechen, Terroranschläge, schwere Unfälle und Naturkatastrophen verursacht wurden. Es sind überwiegend Klienten mit „Big-T-Traumas“, die in Psychiatrien und Traumazentren versorgt werden.
Unter dem Begriff „small-t-trauma“ werden dagegen die vielen „kleinen“ Katastrophen zusammengefaßt, die einen Menschen meist in seiner Familie oder in seinem Umfeld ereilen und die sich mit der Zeit summieren: körperliche und psychische Mißhandlungen, Vernachlässigung und natürlich sexuelle Übergriffe durch meist männliche Familienangehörige. Der Begriff
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